Sturmauge
den Ausblick über die zerschlagenen Wände hinweg. Die Brise, die den Turm umwehte, verfing sich nicht in ihrem Seidenhemd oder ihren Reiterhosen, obwohl sie mit Gewalt über die scharfkantigen Steine pfiff.
Das Yeetatchen-Mädchen blickte gedankenverloren auf den Ginster hinab. Sie hatte keine Angst, war nur verwundert. Dies war ihr Land, ihre Traumlandschaft, ausgestaltet von ihrem Geist, und hier fürchtete sie niemanden – aber bisher hatte sich ihr hier auch noch nie jemand so vorsichtig genähert.
Sie ballte die Finger der linken Hand und spürte sie zweifach – einmal unbeschwert und frei, dann wieder mit dem Kristallschädel verbunden. Mit einem Gedanken hüllte sie ihren Körper in eine schimmernde Kristallrüstung und eine Gleve mit kurzem Griff erschien in ihrer Hand, denen der Geister ähnlich, allerdings aus Elfenbein gefertigt.
»Das wirst du nicht brauchen«, rief eine Frau hinter ihr.
Xeliath blinzelte. Das ganze Land schien sich um sie zu drehen, während sie selbst unbewegt blieb. Die Frau, eine rothaarige Farlan, taumelte und wäre beinahe gestürzt, fand dann aber ihr Gleichgewicht wieder.
Sie stützte sich auf einen Spazierstock mit silbernem Knauf und bewegte sich, als sei sie verletzt. Nicht einmal in dieser Traumgestalt schien sie ganz unversehrt.
Ist das eine Finte, oder hat sie einfach nicht die Stärke, so zu erscheinen, wie sie will?
Die Yeetatchen blickte unwillkürlich auf ihren linken Arm hinab, der gesund und makellos erschien. Vielleicht ist das ja auch Eitelkeit, aber wenigstens dies schuldet mir das Land.
»Wer bist du?«, fragte Xeliath, und ihre Stimme schnitt durch den Wind wie ein Schwert durch Rauch. »Was willst du von mir?«
»Bist du Xeliath?«, fragte die Frau. Sie wischte sich das Haar aus dem Gesicht, und Xeliath sah einen schwarzen Handabdruck an ihrem Hals. »Mein Name ist Legana.« Der Wind zerrte an ihrem langen, smaragdgrünen Umhang.
Das Weißauge streckte seine Sinne aus und die Verwunderung nahm zu. »Was bist du?«, fragte sie sich. »Dein Gesicht weist auf Farlan hin und dein Haar darauf, dass du eine Geweihte der Dame bist – warum riechst du dann göttlich?«
Legana kam einen Schritt näher. Der Wind, der sie berührte, verebbte schlagartig. »Ich bin der sterbliche Aspekt der Dame, aber früher war ich eine Spionin für Farlan. Ich möchte mit Lord Isak sprechen, um ihm abschließend Bericht zu erstatten. Dann trete ich aus seinem Dienst aus.«
»Warum sollte ich dir glauben?«, fragte Xeliath.
»Ich habe mich deiner Macht ausgeliefert«, sagte Legana schlicht. »Hier bin ich von deiner Gnade abhängig. Lord Isak kennt mich, er wird mich auch erkennen, aber ich bin nicht stark genug, um ihn unmittelbar zu erreichen.«
»Ist dies dein wirkliches Gesicht?«, wollte Xeliath wissen. Ein Windstoß strich unvermittelt an Legana vorbei und ließ sie zusammenzucken. Als sie den Kopf wieder hob, war ihr Gesicht unverändert, aber jetzt sah Xeliath eine geschwungene Linie aus Erhebungen, die sich um ihren Hals zog.
»Dies ist mein wahres Gesicht. Ich bin nicht mächtig genug, um es vor dir zu verbergen. Könnte ich dies, so würde ich das Mal an meinem Hals verbergen, das von dem Mann stammt, der mich versehrte und meine Göttin tötete.«
Xeliath ließ ihre Gleve los. Die Waffe fiel langsam und verschwand, bevor sie den Boden erreichte. An seiner Stelle erschien
ein kleiner Tisch mit einer Kristallkaraffe und zwei Gläsern darauf. »Ich habe ihn benachrichtigt«, verkündete Xeliath. »Wollen wir etwas trinken, während wir warten? Es ist natürlich kein echter Wein, aber wen schert das schon?«
Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, während sie sich eingehend musterten. In ihrer Traumlandschaft unterlag Xeliath keiner solchen Lähmung wie in der echten Welt. Leganas Schönheit war ungebrochen, auch wenn ihre Geschmeidigkeit durch das stofflose Wesen der Götter ersetzt worden war.
Als Isak eintraf, verschwand sein verdrießlicher Ausdruck angesichts der Lumpen, die er hier trug, schnell. Er musterte die Frauen eingehend und versuchte gar nicht erst, sein anerkennendes Lächeln zu verbergen. Erst als ihm Xeliath einen bösen Blick zuwarf, der von entferntem Donnergrollen untermalt wurde, kam der Lord der Farlan näher und hob die Hände zum Gruß.
»Legana«, sagte er, als sie den Gruß erwiderte. »Du hast dich verändert, seit wir uns zuletzt trafen.«
»Es gab viele Veränderungen, Lord Isak.« Sie senkte den Kopf, eher um seine
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