Sturmauge
Finger über die fünf Abdrücke, die sie im Granit zurückgelassen hatte. »O ja, das werde ich.«
Die angenehm kalte Nachtluft füllte ihre Lunge. Die Halskette der Dame lag mit einem warmen Kribbeln auf ihrer Haut unter der Kleidung. Das alberne Gefühl kam nun seltener, in Form von verwirrenden Ausbrüchen, während sich die Eindrücke von Leganas beiden Hälften langsam aufeinander einspielten. Sterblich und göttlich, außerhalb der Zeit – und doch brauchte sie Schlaf und Essen, ganz wie zuvor.
Legana hatte in ihrem bewegten Leben eine ganze Reihe von Drogen ausprobiert – sowohl bei Ritualen im Tempel der Dame als auch bei Einsätzen in Lasterhöhlen – und wusste darum, dass
diesem Gefühl hier überhaupt nichts gleichkam. Da sie von ihrer Göttlichkeit berauscht gewesen war, hatte Legana an ihrem ersten Tag beinahe vergessen, Mikiss zu töten, während sie durch ihre gemeinsamen Zimmer taumelte. Zum Glück hatte sich der frühere Heeresbote der Menin auch noch nicht an seine neuen Kräfte gewöhnt und ihre Veränderung darum nicht rechtzeitig bemerkt. Dieser Moment der Unwissenheit hatte Legana gereicht, um ein Schwert zu ergreifen und den Vampir zu köpfen.
Er hat mich kaum kommen sehen. Als der Kopf zu Boden fiel, sah er noch immer überrascht aus , erinnerte sie sich mit einem Grinsen.
Seitdem hatte Legana darauf geachtet, ihr sterbliches Leben nicht aus den Augen zu verlieren, auch wenn es nun hinter ihr lag. Sie hatte einen Auftrag erhalten, und auf den musste sie sich vorbereiten. Sie hatte mehr als einen Tag gebraucht, um sich der Beschränkungen ihres Körpers wieder bewusst zu werden. Jetzt, da sie mit Schicksal verbunden war, regten sich gegensätzliche Instinkte in ihr, die sich nicht mit den Anforderungen eines Körpers deckten. Nachdem sie sich wieder einigermaßen wohlgefühlt hatte, war sie nach Hale gegangen, in das Tempelviertel Byoras, um ihr Ziel auszukundschaften. Sie hatte sich vom Tempel der Dame ferngehalten, denn sie wollte eine Sache nach der anderen erledigen.
Legana hatte es nicht gewagt, an einem der nächtlichen Rituale im Tempel Alterrs teilzunehmen. Sogar in der geringeren der beiden Kuppelkammern, die Kasi, dem kleineren Mond geweiht war, wäre mindestens einer der Priester zugleich ein Magier. In der momentanen Lage konnte sie es nicht riskieren, dass sie als ungewöhnlich auffiele.
Sie zwang sich weiterzugehen, um unauffällig zu bleiben. Hale war niemals ganz verlassen, denn die zu verrichtenden Gebete und Rituale erforderten eine beständige Aufmerksamkeit. Nur wenige Tempel hier würden ein Hochamt verrichten, aber sie
hatten ihre täglichen Pflichten und standen den Gläubigen Tag und Nacht fast durchgängig offen.
Ein langer Seidenmantel bedeckte ihren Körper bis zu den Fußspitzen und wehte leicht im Abendwind. Legana hatte bemerkt, dass ihr die Kälte des Winters nichts mehr ausmachte, aber der dunkelgrüne Mantel war ihr nützlich, das Schwert und die Kleidung zu verstecken, die in Hale unpassend erschienen wären.
»Verdammte Frömmigkeit«, grollte Legana. »Tagsüber gibt es zu viele Zeugen und Alterrs Gottesdienste finden nachts statt. Wollen wir hoffen, dass sich die Dame bereits weit genug erholt hat, um mir hold zu sein.«
Sie erreichte eine Kreuzung. Zur Rechten konnte sie drei spitz zulaufende Gebäude erkennen, die etwas von der Straße zurückgesetzt waren. Sie wurden durch schlanke Bögen miteinander verbunden und zwischen ihnen befand sich ein Vorplatz: die verbundenen Göttinnen der Liebe.
Ich wette, dass die Priester Trienas und Kantays schon im Bett liegen und die Laute der Anbetung aus dem Tempel ihrer Schwester zu überhören versuchen, dachte Legana lächelnd. Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn Ayarl Lier, ihr Ziel, regelmäßige Ausflüge in Etesias Tempel gemacht hätte, wo die roten Laternen leuchteten und man der Lust mit Begeisterung huldigte. Aber stattdessen hatte sie den Mann eines Tages aus der Ferne beobachtet, während dieser die Straße entlangging. Seinem Verhalten nach zu urteilen war der Junge, der ihm auf dem Fuße folgte, wahrscheinlich ein Lustknabe, darum hatte sie diese Möglichkeit verworfen.
Der Tempel der Mondgöttin befand sich am Ende der Straße, hinter den verbundenen Tempeln, und wurde von der großen Kuppel der Kammer Alterrs zur Linken beherrscht. Eine lange, halbkreisförmige Wand mit einem einzelnen Tor versperrte den Weg. Zur Rechten war die Spitze von Kasis kleinerer Kammer zu
sehen. In dem
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