Sturmflut: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
Sie war nun einmal ein unverbesserlicher Morgenmuffel. Trotzdem zwang sie sich, das warme Bett zu verlassen.
Noch fast im Halbschlaf zog sie sich die Sachen an, die sie am Vorabend rausgelegt hatte, und verließ leise die Wohnung. Um diese Zeit war die Strandstraße komplett verwaist. Nur in einem Fenster ein paar Häuser weiter sah Suna den schwachen Schimmer einer Lampe.
Genau wie geplant, dachte sie und zog den Schlüssel zum Hynsteblom aus der Tasche, den Fenja ihr am Vorabend gegeben hatte. Als sie die Tür des Ladens öffnete, stellte sie zufrieden fest, dass die Türglocke wie verabredet ausgestellt war. Mit einem Anflug von Neid dachte sie an Fenja, die ein Stockwerk über ihr friedlich schlummerte.
Andererseits – tauschen wollte sie mit ihr bestimmt nicht. Am Abend hatten Fenja, Carolin und sie noch eine Weile zusammengesessen und bei einem Glas Wein die erfolgreiche Wiedereröffnung des Hynsteblom gefeiert.
Dabei war Suna noch einmal bewusst geworden, wie sehr die Unsicherheit über das Geschehene ihre Auftraggeberin belastete. Direkt, nachdem das Verfahren gegen sie eingestellt worden war, hatte sie einen Flug nach Fuerteventura gebucht und war zu ihren Eltern geflüchtet, die auf der Kanareninsel ihren Ruhestand genossen. Erst eine Woche, bevor sie Suna beauftragt hatte, war sie nach Sylt zurückgekehrt.
»Ich habe schon das Weihnachtsgeschäft verpasst. Wenn nicht langsam wieder ein paar Euro reinkommen, kann ich den Laden ganz dichtmachen«, hatte sie erklärt. »Zum Glück findet jedes Jahr Ende Februar das traditionelle Biikebrennen statt. Das lockt immer ein paar Touristen auf die Insel, die hoffentlich in Kauflaune sind. Wäre dieser ganze finanzielle Mist nicht, hätte ich noch mindestens bis Ostern pausiert.« Dabei hatte ihre Stimme so matt und kraftlos geklungen, dass Carolin sie tröstend in den Arm genommen hatte.
Hoffentlich kann ich ihr helfen, dachte Suna zum wiederholten Mal, als sie den Stuhl, den Fenja für sie bereitgestellt hatte, nach draußen auf die Straße trug. Sie platzierte ihn direkt unter dem alten Straßenbaum und stieg auf die Sitzfläche. Wenn sie sich ein bisschen streckte, konnte sie die unteren Äste der Baumkrone erreichen. Im schwachen Mondlicht konnte sie nicht viel erkennen, doch es reichte aus, um die kleine drahtlose Kamera, die sie am Abend noch aus ihrem Wagen geholt hatte, in einer Astgabelung zu befestigen. Die Linse richtete sie direkt auf die Front des Hynsteblom.
Plötzlich stutzte sie. War da nicht eine Bewegung gewesen?
Sie fuhr herum und suchte die Umgebung mit den Augen ab. Sie war sich ganz sicher gewesen, aus den Augenwinkeln einen Schatten gesehen zu haben, aber jetzt konnte sie nichts entdecken. Wahrscheinlich ist es nur Einbildung gewesen, sagte sie sich selbst, oder eine Katze auf Mäusejagd.
Es wäre natürlich zu blöd, wenn ausgerechnet der unbekannte Schmierfink sie bei der Installation der Kamera gesehen hätte, fuhr es ihr durch den Kopf. Dann wäre er bestimmt nicht so dumm, sich bei weiteren Aktionen erwischen zu lassen.
Aber auch wenn nur ein übereifriger Nachbar, der um diese Zeit schon wach war, sie beim Befestigen der Kamera gesehen hatte und die Polizei rief, wäre das lästig genug. Streng genommen durfte sie den öffentlichen Bereich vor dem Hynsteblom nämlich nicht per Video überwachen.
Einen Moment wartete sie, bis sich ihr Puls wieder etwas beruhigt hatte, dann überprüfte sie noch einmal den richtigen Sitz der Kamera. Als sie sicher war, dass alles gut hielt und die Kamera sowohl die Eingangstür als auch die Schaufensterscheibe des Ladens filmte, stieg sie vom Stuhl und trug ihn ins Hynsteblom zurück. Dabei sah sie sich immer wieder nach allen Seiten um, aber sie konnte niemanden entdecken, der sie beobachtete.
Beim Abschließen der Tür nahm Suna noch die Tageszeitung mit, ein Exemplar des Sylter Tageblatts , das der Zeitungsbote in den Türgriff geklemmt hatte. Wahrscheinlich würde sie ohnehin nicht mehr einschlafen können. Da konnte sie die Zeit auch nutzen, um sich zu informieren, was auf der Insel gerade Gesprächsthema war.
Nachdem sie sich eine große Tasse Milchkaffee gemacht hatte, setzte sie sich an den Küchentisch und begann, die Zeitung durchzublättern. Die meisten Artikel des Lokalteils drehten sich um Kommunalpolitik. Die jährlichen Kosten für die Sandvorspülung wurden genauso diskutiert wie das Sommerprogramm der Westerländer Musikmuschel. Suna blätterte gelangweilt weiter.
Doch
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