Sturmflut: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
Wolfram Köhne Chef einer Catering-Firma gewesen, die Essen, Getränke und alles, was sonst noch nötig war, für Feiern und größere Events geliefert hatte. Auf dem Rückweg von einer Auftragsbesprechung war er zu schnell unterwegs gewesen, außerdem hatte ihn eine hin- und herrutschende Kiste in seinem Lieferwagen abgelenkt, die einer seiner Mitarbeiter nicht richtig befestigt hatte. Als er sich in einer Kurve zu ihr umgedreht hatte, war er von der rechten Fahrbahnseite abgekommen, hatte die Kontrolle über seinen Wagen verloren und war frontal in das Auto der Sennemanns gerast. Es hatte keinerlei Zweifel gegeben, dass Köhne die Alleinschuld an dem Unfall trug, aber da weder Alkohol noch Drogen im Spiel gewesen waren, hatte er nur eine Bewährungsstrafe aufgebrummt bekommen.
Noch am Abend hatte Suna Rebecca angerufen und sie darum gebeten, ihr den offiziellen Unfallbericht zu besorgen. Diesmal hatte ihre ehemalige Schwägerin allerdings die günstige Gelegenheit am Schopf gepackt und nicht lockergelassen, bis Suna ihr versprochen hatte, zu ihrer Geburtstagsfeier zu erscheinen.
Hoffentlich war es das wert, dachte Suna grinsend. Sie war gespannt, ob der Unfallbericht noch weitere Details enthielt, von denen Fenja nichts wusste.
Suna überlegte, was für ein Gefühl es für Mark gewesen sein musste, dass der Mann, der seine gesamte Familie auf dem Gewissen hatte, beinahe ungestraft davongekommen war. Sie war sich sicher, dass sie an seiner Stelle gewaltige Rachegelüste entwickelt hätte. Allerdings war Mark nach den Schilderungen ja ein viel ruhigerer Typ als sie selbst gewesen, dachte sie. Und so richtig in einen Menschen hineinversetzen konnte man sich doch eigentlich nie.
Sie schaltete das Radio ein, um sich ein wenig von ihrer Grübelei abzulenken, und suchte die verschiedenen Sender durch. Aber entweder es kamen gerade irgendwelche dämlichen Werbespots, oder die gespielte Musik traf überhaupt nicht ihren Geschmack. Daher machte sie kurz darauf das Radio wieder aus und hing weiter ihren Gedanken nach.
Nach knapp viereinhalb Stunden hatte sie endlich ihr Ziel erreicht: das Haus der Familie Katridis in Hannover. Es stand im Stadtteil Ledeburg an einer ruhigen Anliegerstraße, an der sich ausschließlich Einfamilienhäuser befanden. Viele waren von großen Gärten umgeben, die jetzt im Februar natürlich verwaist und ein wenig trist wirkten.
Suna stellte ihren Wagen am Straßenrand ab und ging langsam auf das Haus zu, ein eher kleines Einfamilienhaus, das nicht unbedingt luxuriös, dafür aber sehr gepflegt aussah. Der Garten, der zum großen Teil neben dem Haus lag, verkündete, dass man hier ganz auf Kinder eingestellt war. Neben einem großen Spielturm mit Schaukel, Rutsche und Kletterbrücke war eine Sandkiste in den Rasen eingelassen, und vor der Haustür standen trotz der Kälte ein Kinderfahrrad und ein Dreirad unter einem kleinen Vordach.
Suna überlegte, wie sie am besten vorgehen sollte, um Marks Pflegeeltern so viele Informationen wie möglich zu entlocken. Im Gegensatz zur Polizei hatte sie als Privatermittlerin keinerlei Befugnisse, ihre Gesprächspartner zum Reden zu zwingen. Und auch die einschüchternde Wirkung, die eine Polizeiplakette auf manche Menschen hatte, konnte sie leider nicht nutzen. Sie musste darauf hoffen, dass die Leute ihr freiwillig sagten, was sie wissen wollte, wobei die Strategie, wie sie das Gespräch führte, oft von entscheidender Bedeutung war.
Sie beschloss, sich die Katridis erst einmal anzusehen und sich dann spontan die richtige Taktik zu überlegen. Meistens kam sie relativ weit, wenn sie sich einfach auf ihre Intuition verließ. Sie hoffte nur, dass zumindest einer der beiden Elternteile zuhause war und sie die weite Fahrt nicht umsonst gemacht hatte.
Vielleicht wäre es doch besser, sie hätte vorher angerufen, dachte sie, als sie auf den Klingelknopf gedrückt hatte und auf ein Lebenszeichen im Inneren des Hauses wartete. Allerdings hatte sie die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen bei Überraschungsbesuchen wesentlich mehr verrieten als bei vorher ausgemachten Treffen, bei denen sie die Möglichkeit hatten, sich auf das Gespräch vorzubereiten.
Sunas Sorge erwies sich als unbegründet. Schon nach wenigen Sekunden hörte sie im Inneren des Hauses Schritte, die sich rasch näherten. Die Haustür wurde von innen aufgeschlossen und aufgezogen. Eine schlanke, große Frau mit von grauen Strähnen durchzogenen braunen Haaren blickte Suna fragend an.
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