Sturmflut: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
dauerte. Er machte ein paar vorsichtige Schritte nach hinten in den Wald hinein, umrundete dann das Areal ein Stück weit und schlich sich von der Rückseite an das Haupthaus heran. Es war L-förmig gebaut, und im kürzeren der beiden Flügel erblickte er eine Treppe, die zu einer grau gestrichenen Kellertür führte. Offenbar wurde die Tür häufig benutzt, denn zahlreiche Fußspuren führten von ihr in verschiedene Richtungen und zurück. Umso besser, dann würden seine eigenen Spuren kaum auffallen, dachte Lobinski zufrieden.
Sich aufmerksam umblickend und auf jedes Geräusch lauschend lief er zur Treppe, schlich die Stufen hinunter und legte die Hand auf die Türklinke. Verwundert schüttelte er den Kopf, als sie sich ganz leicht herunterdrücken ließ. Von den strengen Sicherheitsvorkehrungen, von denen Gramser der Familie Lemarchant berichtet hatte, war nichts zu entdecken.
Er öffnete die Tür.
Sie quietschte leise, und sofort hielt er inne und lauschte. Als er nichts hörte, atmete er erleichtert auf. Im Haus schien niemand zu sein, und das Quietschen war nicht laut genug, dass es die Männer auf der anderen Seite des Hauses hören konnten.
Vorsichtig betrat er den ersten Kellerraum und sah sich aufmerksam um. Die Luft roch feucht und muffig. Auf zahlreichen Regalen waren eingekochtes Obst und Gemüse in Gläsern fein säuberlich in Reihen aufgestellt, von der Decke baumelten Schinken, und große Kisten mit Kartoffeln und Äpfeln standen auf dem Boden.
»Hier sieht es ja aus wie im Keller von meiner Oma«, murmelte er beinahe unhörbar und grinste. Das Quartier einer gefährlichen Sekte hatte er sich anders vorgestellt. Die zweite Tür in dem Raum führte in einen langen Flur. Leise schlich Lobinski den Gang entlang und sah in alle angrenzenden Räume.
Er war davon überzeugt, dass jemand, den die Sekte verstecken wollte, eigentlich nur im Keller gefangen gehalten werden konnte. Doch er entdeckte nichts. Außer Vorräten, ein paar Decken und einigen alten Möbeln war in den Räumen nichts zu finden.
Daher beschloss der Detektiv, das Erdgeschoss und das obere Stockwerk des Hauses noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Leise lief er die schmale Treppe nach oben und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Vorsichtig spähte er in den Flur dahinter. Auch er schien leer zu sein.
Das Innere des Hauses wirkte ähnlich einfach wie die Fassade. Auf dem Fußboden lagen gebrannte Tonfliesen, die weißen Wände würden nur durch vier Türen aus Kiefernholz unterbrochen. Weder Möbel noch Bilder oder andere Dekorationsgegenstände, die eine wohnlichere Atmosphäre geschaffen hätten, waren zu sehen.
Lobinski schob sich durch die Tür und drückte sie langsam zu. Doch plötzlich blieb er abrupt stehen.
Direkt vor ihm kam ein schmächtiger Junge von vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahren mit asiatischem Aussehen durch die Tür, die schräg gegenüberlag und hinter der Lobinski die Küche vermutete.
Der Junge trug die gleiche, einfach geschnittene blassblaue Kleidung, die auch die anderen Mitglieder der Gemeinschaft unter ihren dicken Jacken angehabt hatten. Er hielt eine dampfende Tasse Tee in der Hand, hatte einen dicken Schal um den Hals gebunden und wirkte ziemlich elend. Kein Wunder, dass er nicht mit den anderen draußen ist, schoss es dem Privatdetektiv durch den Kopf. Eine ordentliche Grippe schien ihn erwischt zu haben.
Als der Junge den anderen Mann entdeckte, blieb er wie erstarrt stehen und sah ihn mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen an. Sein Mund öffnete sich leicht, aber er brachte keinen Ton hervor.
Lobinski überlegte blitzschnell. Mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit war der Junge außer ihm die einzige Person im Haus. Es wäre sicher ein Kinderspiel, ihn zu überwältigen. Mit großer Gegenwehr war bei seiner Statur nicht zu rechnen, schon gar nicht in dem elenden Zustand, in dem er sich momentan befand. Die einzige Gefahr bestand darin, dass es dem Jungen gelang, die anderen durch einen Schrei auf sich aufmerksam zu machen. Mit der ganzen Truppe konnte es Lobinski auf keinen Fall aufnehmen.
Er machte sich bereit, sich auf den Jungen zu stürzen.
Dieser blieb einfach stehen und starrte ihn weiterhin an. In seinen Augen mischten sich Angst und Unsicherheit.
Er wusste selbst nicht, was es war, doch irgendetwas in seiner Miene brachte Lobinski zum Umdenken. Der Junge ist bestimmt kein eiskalter Kidnapper, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn überhaupt, ist er eher auch ein Opfer. Vielleicht
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