Sturmflut: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
den Mann noch einmal nachdenklich. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. »Ich denke, das wird nicht nötig sein. Ich glaube Ihnen. Und bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfallen habe.«
»Ist schon in Ordnung.« Die Augen des Anführers blitzten schelmisch auf. »Aber beim nächsten Mal, wenn Sie uns einen Besuch abstatten möchten, klopfen Sie doch einfach an unsere Tür.«
*
Nachdem Suna endlich wieder in Westerland angekommen war, beschloss sie, nur schnell ihren Computer aus dem Hinterzimmer des Hynsteblom zu holen und sich dann in die Wohnung von Fenjas Freundin zurückzuziehen, in der sie vorübergehend logierte. Nicht nur das frühe Aufstehen hatte sie geschafft, auch die Rückfahrt aus Hannover war sehr anstrengend gewesen. Eigentlich fuhr sie ganz gern Auto, aber mehr als neun Stunden an einem Tag waren auch für sie etwas zu viel.
Sowohl Fenja als auch Carolin waren gerade mit der Beratung von Kunden beschäftigt, als sie den Laden betrat. Daher nickte sie den beiden nur kurz zu, holte ihre Sachen und verschwand gleich wieder, ohne Bericht von ihrem Besuch bei Marks Pflegemutter zu erstatten. Das konnte sie auch nach Ladenschluss in Ruhe erledigen.
Als Ausgleich für ihre Kaffeeüberdosis holte sie sich eine Familienpackung Vanilleeis aus dem Gefrierfach, die sie am Vortag zusammen mit ein paar anderen Lebensmitteln im Supermarkt besorgt hatte. Zufrieden setzte sich an ihren Computer und begann zu löffeln. Dabei kam ihr der Gedanke, dass es für ihren Exmann Robert ein Riesenaufreger gewesen wäre, dass sie das Eis direkt aus der Packung aß. Sie grinste und genoss es umso mehr.
Nebenbei ging sie die E-Mails durch, die im Lauf des Tages bei ihr eingegangen waren. Von Kobo war nichts dabei, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Er telefonierte lieber, als irgendetwas zu tippen. Dafür war auf Rebecca wie immer Verlass. Sie hatte am Vormittag den Unfallbericht geschickt.
Schweinische Witze – Vorsicht, hochkriminell! stand in der Betreffzeile. Suna schüttelte lachend den Kopf. Das war typisch Rebeccas Humor.
Nach dem üblichen Prozedere, die Datei zu speichern und die Mail zu löschen, begann Suna mit der Lektüre. Der Bericht bestätigte alles, was sie bereits über den Hergang des Unfalls wusste. Es war weder Absicht im Spiel gewesen noch Alkohol oder Drogen. Nur die leicht überhöhte Geschwindigkeit in Kombination mit einem kleinen Moment der Unaufmerksamkeit hatte ausgereicht, das Leben von drei Menschen auszulöschen. Suna schauderte bei dem Gedanken daran, wie schnell so etwas jedem passieren konnte, der mit dem Auto unterwegs war.
Als sie knapp zwei Drittel des Vanilleeises vertilgt hatte, streikte ihr Magen. Deshalb stellte sie die Packung zurück ins Gefrierfach und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Noch war es nicht zu spät für einen unangekündigten Besuch, entschied sie. Wolfram Köhne, der Unfallverursacher, war zwar vor einem halben Jahr gestorben, aber seine Witwe lebte nur ein paar Straßen weiter. Vielleicht hatte sie noch etwas zu dem Unfall beizusteuern, von dem Suna noch nichts ahnte.
Mit einer dicken Jacke und einem Strickschal ausgestattet, der lang genug war, um ihn vier oder fünf Mal um Hals und Kopf zu wickeln, machte Suna sich auf den Weg. Trotz des immer stärker werdenden Windes und des dunkelgrau verhangenen Himmels genoss sie den Fußmarsch durch die Straßen von Westerland. Die kleine Stadt war nicht unbedingt als schön zu bezeichnen, aber die salzige Luft, der Geruch des nahen Meeres und die vereinzelt zu ihr hinüberdringenden Schreie der Möwen verliehen ihr eine ganz besondere Atmosphäre.
Evelyn Köhne lebte in einem wenig ansehnlichen Mehrfamilienhaus am Rand von Westerland. Die Fassade hätte dringend einen neuen Anstrich nötig gehabt, und die erfrorenen Sommerblumen in den Balkonkästen unterstrichen den tristen Eindruck noch, den die gesamte Wohnanlage machte.
Suna drückte auf den Klingelknopf, neben dem ein Schild mit dem Namen E. Köhne angebracht war. Er befand sich ganz oben, daher ging sie davon aus, dass das Apartment der Witwe direkt unter dem Dach lag.
Es dauerte mehr als eine Minute, bis sich knisternd die Sprechanlage meldete.
»Ja, bitte?«, drang eine verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher.
»Paket für Sie«, gab Suna ausdruckslos zurück. Sie hatte keine Lust, schon an der Haustür abgewimmelt zu werden.
Anstelle einer Antwort plärrte der Summer der Haustür, ein sehr unangenehmes Geräusch. Suna verzog
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