Sturmflut: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
überhaupt nicht danach, dass Mark Ihrem Mann verziehen hat«, wandte sie ein.
»Damals wohl noch nicht.« Eine Zeit lang blickte die Witwe geistesabwesend zur Seite, und Suna fragte sich, ob sie überhaupt noch von ihrer Anwesenheit Notiz nahm. Es dauerte mehr als eine Minute, bis sie endlich weitersprach.
»Ein paar Tage nach der Beerdigung stand Mark plötzlich vor meiner Tür. Ich war völlig überrascht. Mit ihm hatte ich natürlich überhaupt nicht gerechnet. Ich muss sogar zugeben, dass ich ein ganz mulmiges Gefühl dabei hatte, ihn in meine Wohnung zu lassen, weil ich befürchtet habe, dass er mir sagt, wie sehr es ihn freut, dass mein Mann endlich tot ist.«
»Aber das hat er nicht?«, vermutete Suna.
»Nein. Er hat mir gesagt, dass ihm der Tod meines Mannes sehr nahe gegangen ist. Er hätte jetzt erst verstanden, dass auch er ein Opfer des Unfalls geworden ist.« Evelyn lächelte traurig. »Und glauben Sie mir, das war der Kondolenzbesuch, der mir mit Abstand am meisten bedeutet hat.«
*
Unschlüssig hielt Daniel Lemarchant sein Telefon in der Hand. Momentan fürchtete er sich vor jedem Gespräch mit seinen Eltern, aber er wusste, dass es nichts brachte, es aufzuschieben. Schließlich wählte er eine Nummer und wartete.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis seine Mutter abhob.
»Hallo Maman. Ich bin’s, Daniel.«
»Daniel!«, Ihre Stimme klang erfreut. »Bist du endlich zurück?«
Sein Gewissen meldete sich. Er hatte seinen Eltern erzählt, ein paar geschäftliche Termine in Deutschland zu haben. In gewisser Weise stimmte das ja sogar, redete er sich selbst ein. Immerhin war er eine geschäftliche Verbindung mit Lobinski eingegangen. Was genau er mit dem Privatermittler vereinbart hatte, durften seine Eltern natürlich nicht erfahren. Seine Mutter würde wahrscheinlich nie wieder ein Wort mit ihm sprechen, wenn sie mitbekäme, was er gerade eingefädelt hatte. Zu groß war ihre Angst, dass etwas schiefgehen könnte.
Zum Glück hatte er sein eigenes Unternehmen gegründet, anstatt ins Management der Bank seiner Familie einzusteigen, wie seine Eltern das gern gesehen hätten. So war er anderen über seine Termine keine Rechenschaft schuldig.
»Ein paar Tage muss ich leider noch in Deutschland bleiben«, beantwortete er die Frage seiner Mutter. »Aber ich komme sobald wie möglich nach Lausanne zurück.«
»Du solltest jetzt hier sein. Wir können jederzeit etwas Neues über Sébastien erfahren, und ich finde, da solltest du bei uns sein.«
Beim vorwurfsvollen Klang ihrer Stimme schloss er genervt die Augen und atmete einmal tief durch, um die Ruhe zu bewahren.
»Deshalb rufe ich ja an«, gab er mit fester Stimme zurück. »Ich wollte hören, ob ihr Neuigkeiten habt. Außerdem weißt du doch, dass ich mein Telefon Tag und Nacht eingeschaltet habe. Du kannst mich jederzeit erreichen, wenn dieser Privatdetektiv Sébastien wirklich findet. Du weißt, ich würde sofort alles stehen und liegen lassen und an jeden Ort der Welt fliegen, wenn sich herausstellt, dass Sébastien tatsächlich noch lebt.«
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du daran zweifelst.«
»Und ich kann immer noch nicht glauben, dass du diesem Schnüffler so blind vertraust, und das nur wegen ein paar Fotos.«
Sofort, nachdem er den Satz ausgesprochen hatte, bereute er es auch schon, aber es war zu spät.
»Dieser Schnüffler« – sie zog das Wort extrem in die Länge – »hat immerhin herausgefunden, dass dein Bruder nicht mehr in Norwegen ist. Die Sekte hat ihn inzwischen nach Thailand gebracht, und zwei Mitarbeiter dieses Schnüfflers befinden sich bereits auf dem Weg dorthin. Aber das scheint dich ja nicht wirklich zu interessieren.«
»Maman, bitte ...«, setzte Daniel an, doch seine Mutter ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
»Weißt du, was ich manchmal glaube? Ich glaube manchmal, es interessiert dich gar nicht, ob Sébastien noch lebt. Dir geht es doch gut als alleiniger Sohn der Lemarchants.«
»Bitte Maman, du weißt genau, dass es nicht so ist.«
»Ganz im Gegenteil«, keifte sie weiter. »Du bist wahrscheinlich ganz froh, wenn er niemals gefunden wird. Dann gehört unser gesamtes Erbe dir und du brauchst mit niemandem zu teilen. Und vorher bekommst du ja auch noch Sébastiens Treuhandfonds.«
»Du weißt genau, dass mir das Geld nichts bedeutet. Ich bin weder auf Sébastiens Treuhandfonds noch auf sein Erbe angewiesen. Ich habe meinen eigenen Treuhandfonds von Grandmère und Grandpère bekommen, und
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