Sturmherz
Märchen, das sich unmöglich zähmen lässt. Frage ihn nach der Wahrheit, Mari. Frage ihn, ob er Menschen getötet hat. Ob er Seelen gestohlen hat und Schiffe auf das Riff laufen ließ. Frage ihn nach der magischen Stimme der Selkies, die die Menschen umgarnt und genau die Gefühle in ihnen weckt, die uns am besten schmecken. Frage ihn, und dann entscheide, ob ich die Wahrheit gesagt habe.“
Damit warf er sich herum und tauchte in die Wellen ein. Unmöglich. Es musste eine Lüge sein. Ein Versuch, uns auseinanderzubringen. Aber jagte ich nicht nur Illusionen hinterher?
Stumpfsinnig setzte ich einen Schritt vor den anderen. Wolken zogen vom Meer her auf, ein Symbol für die Dunkelheit in mir, die sich über das Licht legte. Ihre ausgefransten, rot glühenden Ränder wirkten wie trockenes Pergament.
Ich ging nicht zurück zu unserem Haus. Stattdessen schwenkte ich nach rechts und lief den schmalen Strandsaum entlang, der die Klippen von der Brandung trennte. Auf einem flachen Stein ließ ich mich nieder, zog die Beine an, schlang meine Arme um die Knie und beschloss, bis ans Ende aller Zeiten nicht mehr aufzustehen.
Der Wind roch nicht mehr nach Freiheit.
Der majestätische Anblick des Meeres im Morgenlicht war mir gleichgültig. Ich wusste weder ein noch aus, kannte weder Lüge noch Wahrheit. Vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen.
Die Kälte in mir wich selbst dann nicht, als sich erneut eine helle Gestalt aus der Brandung erhob. Diesmal war es Louan. In Menschengestalt. Sein Fell hatte er offenbar irgendwo unter Wasser gelassen. Wie hasste ich doch seine Schönheit. Seine silbern glänzende Haut, seinen höhnisch sanften Blick.
„Was hat er dir gesagt?“ Louans Stimme klang wie das Säuseln des Windes in den Felsen. Wie das spröde Flüstern der Gischt. Die Wunde an seinem Kopf war nur noch eine blasse Narbe. Ganz im Gegensatz zu den zahllosen, noch immer blutenden Kratzern, die Raer ihm zugefügt haben musste. „Mari, was hat er dir gesagt? Ich wollte ihn aufhalten, aber diesmal war er der bessere Kämpfer.“
„Hast du getötet?“ Die Worte kamen leicht über meine Lippen, aber sie hinterließen ein taubes Gefühl. „Kannst du deine Stimme benutzen, um menschliche Seelen zu verführen? Hast du Schiffe auf das Riff laufen lassen? Ich habe dir oft solche Fragen gestellt, aber du hast mir nie eine eindeutige Antwort gegeben. Warum?“
Er antwortete mit Schweigen. In seinem Blick lag das, was ich befürchtet hatte. Er wich mir aus, starrte stattdessen auf den Sand unter seinen Füßen und nickte schließlich. Erschöpfung umgab ihn wie eine fiebrige Aura. Es ging ihm nicht gut, aber das war mir egal.
„Ich tat es“, sagte er leise. „Ich raubte Menschen die Seelen und ich ließ ihre Schiffe auf den Felsen zerschellen. Weil es eine Zeit gab, in der ich nur noch hassen konnte. Aber jetzt ist es anders. Mari, ich …“
Ehe ich wusste, wie mir geschah, sprang ich auf und stieß Louan vor die Brust. „Wer war Evelyne? Sag schon? Wer war sie?“
Seine Augen verrieten Schmerz. Plötzlich war da wieder alte Louan, der sanfte Junge, den ich zu kennen glaubte. „Sie war der erste Mensch, den ich geliebt habe“, antwortete er mit gesenktem Blick. „Es ist lange her. Wir lernten uns kennen, als ich damals bei Florence und Jacob lebte.“
„Und wie ist es geendet?“
„Nicht gut. Aber ich habe nicht ihre Seele genommen, wenn du das glaubst. Ich hätte ihr niemals wehgetan. Genauso wenig, wie ich dir wehtun will. Ich liebe dich, Mari.“
„Warum hast du mir nichts von Evelyne erzählt?“
„Weil es vergangen ist. Lange vergangen.“
Ich legte beide Hände auf meine Stirn. Die Welt begann sich zu drehen. Alles erschien mir wie purer Hohn. Wie ein falsches, die Sinne narrendes Trugbild. „Du hast Ruths Gefühle verändert“, flüsterte ich. „Du hast sie so fühlen lassen, wie du es wolltest. Machst du dasselbe mit mir? Mit meinem Vater, mit Olivia und MacMuffin? Benebelst du unseren Geist, damit wir dir zu Füßen liegen?“
Er starrte mich an. So grausam kalt. Ich sah das Glitzern in seinen schwarzen Augen. Nie waren sie mir fremdartiger erschienen. Als er tief Atem holte, schienen eiskalte Finger nach meinem Nacken zu greifen. Das hier war nicht mehr der Junge, in den ich mich verliebt hatte. Was vor mir stand, war die ungeschönte, entblößte Wahrheit.
„Ich kann Gefühle beeinflussen“, sagte er schließlich. „Ich kann euch fühlen lassen, was ich will. Aber dir habe ich nie
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