Sturmherz
damals, als ich das erste Mal mein Herz an einen Menschen verloren hatte. Nur war es diesmal noch weitaus grausamer.
Warum war ich nur so töricht gewesen?
„Wo bin ich?“, hörte ich mich fragen.
„Du bist hier in Aarons Haus“, antwortete Ruth. Sie kam mir so nahe, dass ihr Atem über meine Lippen kroch. Ich roch darin eine kranke Art von Liebe. „Ganz in der Nähe von Inverness, direkt am Meer. Kannst du es hören?“
Inverness? Das war viele Meilen von Westray entfernt. Wie ein Fischschwarm in der Nacht umzingelten mich Erinnerungen an verschwommene Momente. Ruth hatte mich mit einem Giftstachel gestochen, auf dem Rücksitz eines Wagens. Dann waren wir auf einem Schiff gewesen, während die Sonne aufging. Ich hatte alles gesehen und gehört, aber nichts wirklich wahrgenommen. Mein Körper war taub, mein Geist nur noch eine kraftlose, in Ketten gelegte Regung, nicht stark genug, um die Lähmung abzuschütteln. Fremde Kleidung an meinem Körper. Das Meer, das an mir vorüberzog, schillernd im Morgenlicht. Ich hatte nichts gespürt. Nur eine überwältigende Leere, die mich wie ein willenloser Geist an Ruths Seite gehen ließ.
Dann eine weitere Fahrt. Vorbei an grünen Wiesen und Weiden, an Wäldern, Mooren und Bergen. Als eine Stadt kam, hatte Ruth mich wieder in Schlaf versetzt. Ihr Gift war um vieles wirksamer als alles, was ich aus dem Meer kannte. Es hüllte meine Sinne innerhalb kürzester Zeit in Schwärze und ließ die Welt in gnädige Ferne rücken. Oder es hielt mich wach, nahm mir aber den Willen.
Zu wissen, hier gefangen zu sein, fern von Mari, die vielleicht längst tot oder in Raers Fängen war, schmerzte unerträglich. Und doch atmete ich weiter. Mein Herz schlug, mein Brustkorb hob und senkte sich stur. Ich fühlte mich schwach, aber nicht so schwach, wie es hätte sein müssen.
Im Hintergrund saß Aaron an einem Computer.
Ich roch seine Angst. Das Tier in mir reagierte auf diese Schwäche mit Aggression. Wieder startete ich einen sinnlosen Angriff gegen die Fesseln. Ich zog, zerrte und rüttelte, bis jede Kraft aus meinen Muskeln wich und ich schlaff auf das Bett zurückfiel.
Ruth gab einen leisen Singsang von sich, als fände sie Gefallen an meiner Verzweiflung. Mit vergnügter Miene holte sie ein zweites weißes Laken und legte es über meine Hüfte. Wie eine kühle Wolke senkte sich der Stoff auf meine Haut.
„Ich muss mich konzentrieren können“, sagte sie. „So gelingt mir das besser. Ich weiß, das gefällt dir alles nicht, aber wir drei arbeiten auf ein hohes Ziel hin. Wissen und Unsterblichkeit. Deswegen müssen wir zusammenhalten.“
Sie hantierte an einer Maschine herum, die links neben dem Bett stand. Dann hob sie etwas, das wie ein durchsichtiger Krebspanzer aussah, und legte es mir über Mund und Nase. Ein leises Zischen, ein ekelhafter Geruch. Dann das Gefühl, als finge das Zimmer an, sich zu drehen.
„Ich bin kein Unmensch.“ Ruth streichelte mir über das Haar, als sei sie meine Mutter und ich ihr Kind, das getröstet werden musste. Es war mir unmöglich, vor dieser widerwärtigen Berührung zurückzuweichen.
„Denke nicht schlecht von mir. Irgendwann wirst du verstehen, warum ich das tue. Irgendwann.“
Ihre Stimme verlor sich in dunkler Nacht.
Endlich Vergessen. Endlich tiefer, traumloser Schlaf. Vanilleduft, Menschenmädchen. Mari sank kichernd auf mich nieder, ihr Herz raste vor Aufregung. Ahnte sie auch nur ansatzweise, wie gut sich ihr nackter Körper anfühlte? Am liebsten hätte ich sie einfach nur im Arm gehalten und gewiegt, für den Rest meines Daseins.
Alles verblasste, wurde zuerst bleich wie Nebel, dann schwarz. Als sich meine Sicht wieder klärte, starrte ich mit schläfrigem Staunen auf die blassblauen Wände und tickenden Maschinen. Auf einen in künstlichem Licht schimmernden Beutel, ein Bett mit weißen Laken und das Bild einer lächelnden Chimäre aus Mensch und Elefant.
Immer noch hier.
Immer noch gefangen.
Es war Nacht geworden. Ruth steckte Röhrchen in ein Ding, das mir vertraut war, doch an dessen Namen ich mich nicht erinnerte. Aaron tippte etwas in den Computer.
„Sieh dir das an“, raunte er. „Sieh dir nur diese Referenzwerte an. Die weißen Blutkörperchen sind unglaublich, die Monozyten riesig und ihre Konzentration jenseits des Menschenmöglichen. Er muss über enorme Heilkräfte verfügen.“
„Stell dir vor, was das für deine Krebsforschung bedeuten könnte“, zischte Ruth. „Wenn wir analysieren können,
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