Sturmjäger von Aradon - Magierlicht - Nuyen, J: Sturmjäger von Aradon - Magierlicht
noch immer dunkel, aber ein grauer Schimmer hob sich hinter ihnen ab; da war ein bogenförmiger Ausgang. Sie befanden sich in einer kleinen Felshalle, und draußen, hinter dem Flechtwerk der lebendigen Bäume, wurde es Tag.
Sie hielten sich noch immer umschlungen und Hel spürte sich selbst so deutlich wie nie zuvor. Das Gewicht ihres Kopfes, den er in der Hand hielt, und ihre Knie über seinen und ihre verschlungenen Beine und ihren Rücken, auf dem sein Arm ruhte. Sie spürte ihren Herzschlag und seinen, die fast demselben Rhythmus folgten.
Er schlief. Oder er tat so. Lange betrachtete sie ihn. Sein Gesicht wirkte so jung und verletzlich, dass sie sich kaum vorstellen konnte, ihn je bedrohlich gefunden zu haben. Die eckige Stirn, seine dunklen, ernsten Augenbrauen. Die Wimpern, die wie Rabenfedern seinen Blick verschlossen. Die knochige Nase, aus der ein leiser Atem kam. Der geschwungene Mund, länglich, weder voll noch schmal. Sie hatte ihn nie mit offenen Haaren gesehen, sie fielen ihm bis zu den Schultern. Er war so schön, dass es wehtat. Das war eigentlich alles, was sie über ihn wusste.
Draußen raschelten Schritte im Moos. Hel drehte sich um. Lichter glitten durch die Dämmerung, langsam, und verschwanden. Hel hielt den Atem an.
Hel …
Sie richtete sich auf, sein Umhang glitt von ihren Schultern.
Komm …
Hel stand auf. Es war ein Befehl, dem sie sich nicht widersetzen konnte. Sie stieg in ihre Stiefel, streifte sich die Tunika über, dann tapste sie nach draußen. Im Eingang drehte sie sich noch einmal nach ihm um. Er hatte sich nicht bewegt; wenn er wach war, ließ er es sie nicht wissen. Hel verließ die Steinhalle.
Unter dem Baumdach führte eine steinerne Treppe nach unten, eine zweite führte an den Felsen bergauf. Blätter raschelten. Hel folgte den Geräuschen nach oben. Sie hatte keine Angst, nur ein ungutes Gefühl.
Die Stufen mündeten auf ein Felsplateau, wo keine Bäume standen. Ein flaches Steinbecken ragte aus dem Boden, das Hel für eine Sekunde wiedererkannte, aus einem Traum vielleicht oder der Vergangenheit. Sie trat an den Rand des Vorsprungs und sah sich um. Unter ihr breiteten sich die Bäume aus wie ein Meer, über ihr ragte eine Felswand auf. In der Ferne lag die tiefe Schlucht, die ganz Hellesdîm umgab. Zum ersten Mal konnte sie das Alte Reich in Ruhe betrachten.
Ein bewölkter Tag brach an, doch das Land leuchtete, als würden Sonnen aus der Erde strahlen. Alles war in Bewegung. Hügel wuchsen und schrumpften wie Meereswellen. Wälder verschoben ihre Grenzen, als würde in ihrem Dickicht ein großes Herz schlagen. Es war so schön … aber wo waren hier Menschen? Wer konnte hier leben? Wenn das Heer Aradons tatsächlich über die Kauenden Klippen kam, würde die Sturmjagd sofort beginnen. Es gab keine Druiden, gegen die Krieg geführt werden konnte, keine Armeen. Nur das Land, das sich mit seinem wilden Leben wehren konnte und am Ende doch verbluten musste, so wie die Wälder, Gebirge und Steppen auf der anderen Seite der Kauenden Klippen es längst getan hatten.
Hel schloss die Augen, sah mit der zweiten Sicht und atmete tief durch.
Bin ich schon einmal hier gewesen?, horchte sie in sich hinein. Wenn ich ein Totenlicht trage, komme ich dann von hier?
Undefinierbare Stimmen flüsterten im Säuseln der Zweige. Schritte erklangen hinter Hel. Ein Schauder jagte ihr den Rücken hinab, aber sie wagte nicht, sich umzudrehen. Irgendwer war da. Die, die immer waren, immer sein würden.
»Hel.«
Sie fuhr herum. Mercurin stand auf den Stufen. Er war barfuß, trug nur seine Hose und sah ganz anders aus als mit seinem Umhang und dem hochgesteckten Haarknoten. Irgendwie auf eine neue Art einschüchternd. Er strich sich die losen Strähnen hinter die Ohren. Als er auf sie zukam, glitt ihr Blick über seinen Oberkörper, der sehnig war und ein bisschen ausgezehrt, aber so gänzlich anders als ihrer. Sie errötete und drehte sich zum Land um.
Er blieb einen Schritt hinter ihr stehen, als traue er sich nicht, näherzukommen. Im Licht des neuen Tages war das verständlich. Die Nacht lag noch über ihren Gedanken wie ein feinmaschiges Gewebe, aber sie war vorüber, und daran festzuhalten, konnte gefährlich sein.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Hel unvermittelt.
Nach einem Moment sagte er: »Zwanzig oder so.«
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. Wahrscheinlich kannte er sein genaues Alter ebenso wenig wie Hel, aber sie wusste, dass er noch keine zwanzig Sommer zählen
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