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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Draußen im Korridor waren Schritte zu hören. Sie kannte diese Schritte und wurde wütend, als sie sie hörte. Nicht schon wieder! dachte sie. Und ausgerechnet heute abend.
    In ihrer ersten Nacht im Krankenhaus war Samantha vom Klang dieser Schritte aus leichtem Schlaf geweckt worden. Zunächst hatte sie sich nichts gedacht, aber als die Schritte immer näher gekommen waren, und ihr einfiel, daß das Badezimmer sich ja am anderen Ende des Flurs befand, war sie unruhig geworden. Vor ihrer Tür hatte der nächtliche Wanderer halt gemacht. Samantha hatte mit angehaltenem Atem dagelegen und gelauscht, aber nichts gehört. Sie hatte das unangenehme Gefühl gehabt, daß die Person vor der Tür durch ihr Schlüsselloch spähte. Nach einer Minute etwa war der ungebetene Besucher wieder gegangen, seine Schritte waren im Korridor verhallt. Schnüffler, hatte Samantha zornig gedacht und hatte sich umgedreht, um weiterzuschlafen.
    Aber der Schnüffler hatte ihr keine Ruhe gelassen. Er war immer wieder gekommen, im allgemeinen dreimal in der Woche, immer spät nachts. Und jedesmal war er eine Weile vor ihrer Tür stehengeblieben, als lausche er oder versuche, in ihr Zimmer zu sehen. Samantha hatte daran gedacht, sich bei Mrs. Knight zu beschweren, hatte den Gedanken aber {209} gleich wieder verworfen. Die Oberschwester würde ihr höchstens sagen, daß sie sich das selbst zuzuschreiben hatte. Wer immer auch der Schnüffler sein mochte, er schien nichts Böses im Sinn zu haben, sondern nur neugierig zu sein. Samantha beschloß, ihn einfach zu ignorieren.
    Aber an diesem Abend geriet sie in Zorn. Kurz entschlossen packte sie ihre Flasche mit Eau de Cologne und stellte sich direkt vor die Tür. Als der Klang der Schritte vor ihrer Tür abbrach, wartete sie noch einen Moment, dann schob sie das Schläuchlein des Flakons ins Schlüsselloch und drückte ein paarmal kräftig. Von der anderen Seite der Tür kam ein verdutzter Aufschrei, dann folgte ein dumpfes Geräusch, als wäre jemand gestürzt, und wenig später rannte der Schnüffler durch den Korridor davon.
    Im nächsten Moment schallte das Bimmeln der Notglocke durch das Haus.
     
    Die Pferde schnaubten unruhig. Jake, der Nachtfahrer, sprang vom Bock, um Samantha auf den Wagen zu helfen, doch sie wehrte ab. Irgendwo, vermutete sie, stand versteckt Dr. Prince und beobachtete sie. Sie umfaßte das Geländer und zog sich mit solchem Schwung in die Höhe, daß sie beinahe kopfüber in den Wagen gefallen wäre. Ehe sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, zogen die Pferde an, und sie stürzte auf die Knie.
    Samantha hielt sich mit beiden Händen fest, während sie mit laut bimmelnder Glocke die 50. Straße hinunterjagten. Es war früher Abend, und auf den Straßen waren noch eine Menge Leute unterwegs; diejenigen, die bemerkten, daß hinten auf dem Notwagen eine Frau saß, blieben stehen und zeigten mit den Fingern.
    Beim East River hielt der Wagen vor einem hell erleuchteten Haus mit einer roten Laterne über der Tür. Im Nu sammelte sich eine kleine Menge Neugieriger an. Eine spitzgesichtige Frau im strengen grauen Bombassinkleid kam Samantha und Jake entgegen und führte sie in den oberen Stock des Hauses.
    Das Zimmer war voller Frauen jeden Typs und jeden Alters, alle notdürftig gekleidet. Die einen weinten, die anderen starrten mit morbider Faszination auf das Bett.
    »Es ging ihr schon die letzten paar Tage nicht gut«, bemerkte die verkniffen wirkende Bordellmutter.
    Auf dem Bett lag ein Mädchen von höchstens vierzehn Jahren, der magere kleine Körper nur in einen Spitzenmantel gehüllt. Sie schien zu schlafen. Die Hände waren auf dem Bauch gefaltet. Als Samantha den {210} bläulichen Schimmer um Lippen und Nasenflügel sah, fragte sie sofort: »Was hat sie genommen?«
    Die deutete auf eine leere Flasche neben dem Bett: Dr. Hansens Elixir. »Alle meine Mädchen nehmen das hin und wieder mal. Auf dem Etikett steht, daß es völlig ungefährlich ist. Ich verstehe nicht, wie das hier passieren konnte.«
    Samantha zog die Lider des jungen Mädchens hoch und sah die stark verengten Pupillen. Das Mädchen atmete kaum noch, aber der Puls war gut.
    »Opiumüberdosis, Jake«, sagte Samantha. »Wir müssen sie schnellstens ins Krankenhaus bringen.«
    Sie legten das Mädchen auf eine Trage und trugen sie die Treppe hinunter. Die Bordellmutter rannte ihnen hinterher. »Ich kann da nichts dafür«, sagte sie mehrmals beschwörend. »Ich führe ein ordentliches Haus. Keines meiner

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