Sturmjahre
Mädchen hat jemals …«
Auf der Fahrt ins Krankenhaus rieb Samantha unablässig die eiskalten Hände des Mädchens, während sie innerlich flehte, du darfst nicht sterben. Bitte, stirb nicht …
In der Notaufnahme war kein Mensch. Nachdem sie das Mädchen auf den Untersuchungstisch gelegt hatten, schickte Samantha Jake um Hilfe. Das Kind war inzwischen blau im Gesicht.
Zuerst versuchte es Samantha mit einer Magenspülung; da jedoch durch den Schlauch kaum etwas von dem ›Elixir‹ hochkam, wußte sie, daß es dafür zu spät war. Sie würde zu drastischeren Maßnahmen greifen müssen. Im Geist hörte sie Dr. Pages schnarrende Stimme: »Bringen Sie die Atmung auf mechanische Weise wieder in Gang, schlagen Sie mit einem feuchten Tuch nicht zu fest auf den Bauch, wärmen Sie Hände und Füße, flößen Sie dem Patienten schwarzen Kaffee ein und zwingen Sie ihn umherzugehen …«
Als Jake zurückkam, war Samantha schon dabei, die schlaffen Arme des Mädchens wie Pumpenschwengel zu bewegen – nach oben, über den Kopf, und hinunter zum Bauch, und drücken. Immer wieder der gleiche Ablauf. Mit Jake kam einer der Stationsärzte. Er trat zum Tisch, legte die Fingerspitzen an den Hals des Mädchens, warf nur einen kurzen Blick auf das blau verfärbte Gesicht und sagte: »Verehrteste, Sie arbeiten mit einer Leiche.«
Samantha hielt inne, um den Puls zu suchen. Überzeugt, ihn gespürt zu haben, nahm sie ihre Bemühungen wieder auf. »Ich brauche Hilfe, Doktor. Bis die Atmung spontan wieder einsetzt, müssen wir für sie atmen.«
{211} Der Arzt schüttelte den Kopf. »Sie verschwenden Ihre Zeit, Miss Hargrave. Die Kleine ist hinüber. Ich schlage vor, Sie stellen den Tod fest und gehen zu Bett. Bei ihrem Gewerbe ist sie tot sowieso besser dran.«
Kaum war er gegangen, sagte Samantha zu Jake: »Holen Sie mir irgend jemanden, ganz gleich, wen.«
Sie war nahe daran zusammenzubrechen, als Jake endlich mit Mrs. Knight wiederkam. Ohne ein Wort löste sie Samantha ab. Von da an wechselten sie alle fünfzehn Minuten.
Gegen Mitternacht erschien einer der Assistenzärzte im Zimmer. Ein paar Minuten lang sah er der keuchenden Mrs. Knight bei der Arbeit zu, dann zog er hastig sein Jackett aus und ging zu ihr, um sie abzulösen. Weit weniger enthusiastisch in seinen Bemühungen als die beiden Frauen, sagte er nach ein paar Minuten: »Die kommt nicht wieder auf die Beine, Doktor. Stellen Sie doch den Tod fest.«
»Nein. Solange der Puls noch spürbar ist, tue ich das nicht. Wenn Sie müde sind, Doktor, kann ich ja weitermachen.«
Davon jedoch wollte er nichts wissen. Im fünfzehn-Minuten-Takt arbeiteten sie weiter. Nach zwei Stunden, als sie alle drei schweißgebadet waren, wichen die bläulichen Schatten im Gesicht des jungen Mädchens einem feinen rosigen Schimmer, und ein paar Minuten später holte das Mädchen zum erstenmal tief Luft.
Der Assistenzarzt hörte auf zu pumpen. Samantha nahm das Handtuch, das sie in eiskaltem Wasser eingeweicht hatte und begann, das Mädchen mit dem nassen Tuch fest auf den bloßen Bauch zu schlagen. Bei jedem Schlag schnappte das Mädchen krampfhaft nach Luft und wälzte den Kopf hin und her. Als ihre Augenlider zu flattern begannen, sagte Samantha: »Mrs. Knight, jetzt brauchen wir eine große Kanne starken schwarzen Kaffee.«
Sie hoben sie vom Untersuchungstisch und stellten sie, so gut es ging, auf die Beine. Sie von beiden Seiten stützend, gingen sie mit ihr im Zimmer hin und her, wobei sie immer wieder Pause machten, um ihr von dem starken Kaffee einzuflößen.
Als es draußen zu dämmern begann, hatte sie sich so weit erholt, daß sie sie in einen der Krankensäle bringen konnten. Müde nahm Samantha Hut und Jacke. An der Tür trat ihr der junge Kollege in den Weg und bot ihr die Hand.
»Sie haben mich überzeugt, Dr. Hargrave. Für mich sind Sie in Ordnung.«
{212} Beim Frühstück sprachen alle nur über das Attentat auf Präsident Garfield, das die Gemüter weit mehr erregte als Lincolns Ermordung sechzehn Jahre zuvor. Damals hatte das Land vier Jahre grausamen Krieg hinter sich gehabt; Lincoln war für die Leute nur eines seiner Opfer gewesen. James Garfield jedoch hatte die Präsidentschaft in Friedenszeiten übernommen, er stand für Wohlstand und Sicherheit und genoß darum große Beliebtheit. Nun lag er im Sterben. Die Ärzte konnten nichts für ihn tun. Die Kugel, die ihn getroffen hatte, konnte trotz fieberhafter Bemühungen nicht gefunden werden.
»Da stecken die
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