Sturmjahre
war leise. »Estelle ist nicht an ihrer Krankheit gestorben. Joshua hat sie getötet.«
Samantha rührte sich nicht, gab durch nichts zu erkennen, daß sie die Worte gehört hatte.
»Estelle litt entsetzlich«, fuhr Mark fort. »Sie bekam eine Infektion nach der anderen; sie hatte unaufhörlich Schmerzen und wurde von Tag zu Tag schwächer. Sie war zum Skelett abgemagert. Sie flehte ihn an, ihrem Leben ein Ende zu machen. Da gab er ihr eine Überdosis Morphium. Sie war ihm dankbar dafür, daß sie ohne Schmerzen sterben konnte.«
Ja, Joshua, dachte Samantha tieftraurig, ich weiß, warum du mich das wissen lassen wolltest. In der Medizin gibt es keine klaren, eindeutigen Entscheidungen; es gibt kein Schwarz oder Weiß. Soll man ein ungeborenes Kind töten, um das Leben einer Frau zu retten? Soll man eine Frau töten, um ihrem Leiden ein Ende zu machen? Manchmal muß der Arzt sich für den Tod entscheiden, um Leben zu erhalten, und manchmal muß {202} er sich fragen: Was ist wichtiger, die Quantität oder die Qualität des Lebens? Die Antworten auf solche Fragen stehen in keinem Lehrbuch, der Arzt muß versuchen, sie selbst zu finden. Darum hast du darauf bestanden, daß Mark mir die Wahrheit über Estelle sagte.
Samantha war plötzlich sehr müde.
»Dr. Rawlins«, sagte sie leise, »würden Sie mich jetzt bitte allein lassen?«
»Hier?« Er sah sich skeptisch um. »Aber –«
»Bitte. Ich muß nachdenken, und das kann ich nur hier. Ich werde nicht lange bleiben. Bitte entschuldigen Sie mich bei Mrs. Kendall.«
Lange saß Samantha reglos auf dem alten Baumstamm in der kleinen Lichtung, wo sie im Lauf des vergangenen Jahres so manche Entscheidung für sich getroffen hatte. Sie wußte, daß ein langer, harter Weg vor ihr lag, ein Weg, den keine Frau vor ihr beschritten hatte. Aber sie wußte auch, daß dies der Weg war, der ihr bestimmt war, und sie war entschlossen, ihn zu gehen.
{203}
Dritter Teil
New York, 1881
{204} 1
Samantha wußte genau, was Dr. Prince im Schilde führte. Seit sie sich vier Wochen zuvor mit Hilfe einer List eine Assistentenstelle am St. Brigid’s Krankenhaus erobert hatte, sann er nur darüber nach, wie er sie schleunigst wieder loswerden könnte. Jetzt hatte er ihr eine Falle gestellt. Nur hatte er in seiner Arroganz Samantha gründlich unterschätzt. Die hatte nämlich bereits ihren eigenen Plan.
Was sie an diesem Abend tun wollte, hatte vor ihr noch keine Frau gewagt, und wenn sie auch zuversichtlich an ihren Erfolg glaubte, so war sie doch nervös. Während sie rastlos in ihrem kleinen Zimmer hin und her ging, wartete sie ungeduldig auf das schrille Bimmeln des Rettungswagens.
Es wäre ihr an diesem Abend genau wie vor vier Wochen lieber gewesen, nicht zu einer List greifen zu müssen, aber sie war jetzt ebenso dazu gezwungen wie damals. Gleich nach ihrer Rückkehr nach New York hatte sich Samantha eine Liste aller Krankenhäuser gemacht, die Assistentenstellen anboten. Henry Jones hatte ihr erklärt, daß sie es nur auf diesem Weg zu einer gehobenen Stellung in der medizinischen Wissenschaft bringen konnte. Sie war also von Krankenhaus zu Krankenhaus marschiert und hatte nichts als Absagen erhalten.
Sie brauchte nur durch die Tür des Verwaltungsbüros zu treten, und schon sagte man ihr, ohne auch nur einen Blick auf ihre Referenzen zu werfen, die Stelle sei leider schon besetzt. Samantha, der nach zwei Wochen vergeblicher Bemühungen klar wurde, daß sie als Frau niemals unterkommen würde, wenn sie sich nicht etwas einfallen ließ, beschloß, ihre Strategie zu ändern. Bei den letzten vier Krankenhäusern, die noch auf ihrer Liste standen, bewarb sie sich nicht persönlich, sondern schriftlich und legte Empfehlungsschreiben von Dr. Jones und Dr. Page bei, aus denen zum Glück nicht hervorging, daß sie weiblichen Geschlechts war. Ihre Bewerbungsschreiben unterschrieb sie mit ›Dr. S. Hargrave‹.
Das Warten danach war qualvoll, aber schließlich kamen vier Zusagen. Samantha war selig.
Sie entschied sich aus zwei Gründen für das St. Brigid’s: Es war ein großes Krankenhaus mit vierhundert Betten, und es bot ein chirurgisches Ausbildungsprogramm an. Genau das Richtige für sie.
Dr. Silas Prince war anderer Meinung. Als sie ihn in seinem Büro auf {205} suchte, und er begriff, daß
sie
S. Hargrave war, teilte ihr der sechzigjährige Chefarzt mit kaum verhohlener Empörung mit, daß man sich außerstande sehe, sie als Assistentin einzustellen. Samantha, die mit einem
Weitere Kostenlose Bücher