Sturmjahre
Demokraten dahinter!« behauptet einer der älteren Chirurgen.
»Und ich sage Ihnen, meine Herren«, ließ sich eine andere Stimme vernehmen, »es ist reiner Wahnsinn, den Bauch öffnen zu wollen. Es ist völlig belanglos, daß die Kugel nicht zu finden ist. Den Bauch aufzumachen, wäre sowieso der sichere Tod.«
In diesem Augenblick kam Samantha in die Kantine, und es wurde still. Alle drehten die Köpfe und starrten sie an. Dr. Prince stand von seinem Tisch auf und kam, in der Hand die Morgenausgabe der
Tribune,
langsam auf sie zu. Sein Blick war kalt, sein weißer Schnauzbart sträubte sich förmlich vor Wut.
»Haben Sie das gesehen, Dr. Hargrave?« Er hielt ihr die Zeitung hin.
Sie hatte es bereits gesehen. Jemand hatte ihr die Zeitung vor ihre Zimmertür gelegt. Auf der ersten Seite war ein kurzer Bericht über Samanthas nächtliche Heldentat.
»Ich kann dergleichen nicht billigen, Dr. Hargrave. Verantwortlich dafür ist der Fahrer des Rettungswagens. Er hatte gestern nacht offenbar nichts Besseres zu tun, als vor einem Reporter, der zufällig auf der Rettungsstation war, mit Ihrem gemeinsamen Abenteuer zu prahlen. Jetzt stehen sechs Reporter unten und verlangen die neuesten Geschichten über die Frau Doktor. Ich habe dem Mann eine Rüge erteilt. Und ich empfehle Ihnen, Dr. Hargrave, in Zukunft auf Diskretion zu achten, statt billigem Ruhm nachzujagen. Das St. Brigid’s ist kein Zirkus.«
Sie sah ihm ruhig in die Augen. »Ja, Dr. Prince.«
Er kniff die Augen zusammen. Diese Frau war eine gerissene Person. Er hatte sie zweifellos unterschätzt; aber das würde ihm nicht noch einmal passieren.
»Noch etwas, Dr. Hargrave. Die Tatsache, daß Sie eine ganze Nacht an eine einzige Patientin verschwendet haben, zeugt von Ihrem schlechten Urteilsvermögen. Sie sind übermüdet, was bei der morgendlichen Visite untragbar ist, und Sie haben zwei weitere Personen benötigt, die Ober {213} schwester und einen Assistenzarzt. Hinzu kommt, daß Sie nicht verfügbar waren, falls ein weiterer Notruf hereingekommen wäre. Sie müssen lernen, Prioritäten zu setzen.«
»Ja, Dr. Prince.«
Einen Moment schien es, als wolle er noch etwas hinzufügen, dann aber drehte er sich abrupt um und ging aus dem Saal. Innerlich kochend vor Zorn, setzte sich Samantha an ihren Tisch, an dem wie immer alle Plätze frei waren.
Da begann plötzlich einer der Assistenzärzte am Nebentisch gedämpft, aber mit Nachdruck zu applaudieren.
Verdutzt sah Samantha auf.
Die anderen begannen nun ebenfalls zu klatschen, und fast eine Minute lang füllte dröhnender Applaus die Kantine. Samantha sah die freundlich lachenden Gesichter um sich herum und wurde rot vor Freude und Verlegenheit.
2
Louisa hatte sich erschreckend verändert. Sie, die immer wie aus dem Ei gepellt gewesen war, sah ungepflegt und vernachlässigt aus. Von ihrer früheren Lebenslust war nichts zu spüren; ihre Bewegungen waren fahrig, die grünen Augen standen keinen Moment still, ihr Ton wurde oft heftig und schrill. Gewiß, sie war im achten Monat schwanger, aber das konnte doch nicht der Grund für diese Veränderung sein. War sie vielleicht in ihrer Ehe unglücklich?
Als Louisa sich, die Hand ins Kreuz gestemmt, vom Sofa hochzog und hinausging, benutzte Samantha die Gelegenheit dazu, sich im Wohnzimmer umzusehen. Luther verdiente als Teilhaber von Mr. DeWinter offensichtlich gut. In der Ecke stand eine nagelneue Musik-Nähmaschine:
Beim Treten wurden zugleich mit der Nadel Walzen in Bewegung gesetzt, die kleine Melodien klimperten. Doch die Maschine wurde offenbar nie benutzt; sie war ebenso wie die Figuren, die auf ihr standen, mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Ein Ausbund an Ordnung war Louisa nie gewesen, aber dieses staubige, unaufgeräumte Wohnzimmer machte den Eindruck, als wäre sie an einem Punkt angelangt, wo ihr alles gleichgültig war.
»Garfield, Garfield, Garfield«, sagte Louisa gereizt, als sie mit einem Tablett, auf dem zwei Gläser mit einer braunen Flüssigkeit und zwei Teller mit Mohnkuchen standen, aus der Küche zurückkam. »Das ist
root beer«,
erklärte sie, auf die Gläser zeigend. »Es ist was ganz Neues.«
{214} Samantha griff nach einem der Gläser.
»Nein, das ist meines«, sagte Louisa und nahm es ihr aus der Hand. Samantha fiel auf, daß der Schaum nicht so hoch stand wie im anderen Glas.
Louisa zog die angeschwollenen Beine aufs Sofa hinauf und stieß dabei einen Warenhauskatalog zu Boden. »Alle reden nur von Garfield. Ich bin es
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