Sturmjahre
ihr zusammen, half ihr und führte sie. »Der Ansatz ist richtig, Doktor, aber der Retraktor hier hilft Ihnen mehr, wenn Sie ihn da plazieren.« Seine Hand umfaßte die ihre. »Nicht zuviel Spannung, sonst reißt das Gewebe. Haben Sie das Nahtmaterial bereits?«
»Ja. Der Darm liegt im Karbol.«
Er sah einen Moment auf und blickte Samantha an, deren Kopf über die Patientin geneigt war. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann ließ er es bleiben. Als Samantha den Nadelhalter nahm, veränderte er behutsam die Stellung ihrer Finger, und als sie den Knoten band, legte er ihr die Schere in die Hand und führte sie beim Abschneiden der Fäden.
Samantha sah nicht ein einziges Mal auf. Sie wirkte so konzentriert, daß Mark überzeugt war, sie wäre sich seiner Anwesenheit kaum bewußt. Tatsächlich jedoch war sich Samantha seiner Nähe und der freundlichen Berührung seiner Hände sehr deutlich bewußt und schöpfte Kraft und Ruhe aus ihr.
Samantha arbeitete schnell und geschickt. Nie mußte Mark ihr einen Handgriff mehr als einmal zeigen. Mark fädelte ihr die gebogenen Nadeln ein und sah ihr zu, wie sie das zerrissene Gewebe sauber zusammenzog und die Fäden so sicher und gekonnt verknotete, als hätte sie dies schon viele Male früher getan. Er musterte die Instrumente im Becken, die alle richtig gewählt waren, die Fäden, die auf die richtige Länge geschnitten waren, und bewunderte die Unerschrockenheit, mit der sie ganz allein und ohne Hilfe zugepackt hatte.
»Sie haben dieser Frau das Leben gerettet, Doktor«, sagte er leise.
Jetzt erst hob Samantha den Kopf. Ihre Wangen waren gerötet, und die klaren grauen Augen glänzten. »Aber ohne Ihre Hilfe wäre Sie mir gestorben.«
Er sah ihr in die großen Augen, in denen sich soviel Kraft und Entschlossenheit spiegelten, sah aber darunter auch ihre Verwundbarkeit und Unsicherheit.
»Sie haben alles absolut richtig gemacht, Doktor.« Er griff über den Tisch und drückte ihre Hand.
Samantha fühlte sich plötzlich wie auf Wolken. Sie hatte ein Menschen {241} leben gerettet, sie hatte den kühnen Schritt zur Operation gewagt, und sie wurde sich mit einem Schlag bewußt, daß sie Mark Rawlins liebte.
»In den nächsten fünf Tagen muß sie ständig beobachtet werden, Dr. Hargrave«, sagte er und ließ ihre Hand los. »Die Gefahr der Peritonitis und der Sepsis ist groß. Untersuchen Sie sie mindestens dreimal täglich und überwachen Sie die Temperatur.«
Samantha sah ihn lächelnd an. »Ja, Dr. Rawlins.«
Mark zog die Schürze über seinen Kopf und ging zur Tür, um sie aufzuhängen. Dann zog er seine Taschenuhr heraus und klappte sie auf. »Es ist Weihnachtstag, Dr. Hargrave.«
Sie sah durch das Fenster ins Schneetreiben hinaus. »Ja, ich weiß«, murmelte sie.
Er kehrte zum Tisch zurück und nahm wieder ihre Hände. Ohne auf die neugierigen Blicke von Dr. Weston und Mrs. Knight zu achten, trat er sehr nahe an Samantha heran und sah ihr tief in die Augen. »Ich bewundere Sie, Dr. Hargrave. Ich werde diese Nacht nie vergessen.«
Samantha war beunruhigt. Sie hatte auf eigene Faust eine Operation gewagt. Dr. Prince würde sie nicht ungestraft davonkommen lassen. Würde Marks Unterstützung ausreichen, um sie vor der Entlassung zu bewahren? Sie schlief schlecht in der folgenden Nacht. Nachdem vier- undzwanzig Stunden vergangen waren und dann ein weiterer banger Tag und eine schlaflose Nacht folgten, ohne daß eine Reaktion von Dr. Prince kam, sagte sich Samantha, daß er seine Strafaktion gegen sie diesmal zweifellos gründlich vorbereitete, um nicht erneut Gefahr zu laufen, etwas zurücknehmen zu müssen.
Zwei Tage später wurde sie in sein Büro zitiert.
Er stand mit grimmiger Miene hinter seinem Schreibtisch, als sie eintrat. Doch zu ihrer Überraschung war noch eine dritte Person anwesend, ein Mann, den sie nicht kannte.
»Dr. Hargrave«, sagte Silas Prince, »darf ich Sie mit Dr. Landon Fremont bekanntmachen? – Dr. Fremont, Dr. Samantha Hargrave.«
Sie nickte dem Fremden kurz zu. Sein Name kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie sah, daß er ein freundliches, offenes Lächeln hatte und sie mit unverhohlener Überraschung musterte.
»Setzen wir uns doch«, sagte Dr. Prince und nahm so gewichtig wie ein Richter im Gerichtssaal seinen Platz am Schreibtisch ein. »Dr. Hargrave, Dr. Fremont hätte sich gern mit Ihnen unterhalten.«
Der Fremde wirkte ein wenig unsicher. Er räusperte sich umständlich.
»Sie müssen verzeihen, Dr. Hargrave,
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