Sturmjahre
sich näherte. Sie trug einen hautengen, mit Pailletten besetzten Anzug und einen Kopfschmuck aus Straußenfedern.
»Was ist passiert?« fragte Samantha.
Die kostümierte Frau warf einen Blick auf die beiden Männer und sagte dann leise: »Sie hatte einen Unfall mit einer Stricknadel.«
Samantha sah sich nach den Männern um und sagte: »Würden Sie uns bitte allein lassen?« Nachdem die beiden sich hastig zurückgezogen hatten, kniete sie neben der Chaiselongue nieder und hob die Decke, die man über der reglos daliegenden Frau ausgebreitet hatte. »Wann hat sie es getan?« fragte sie, während sie mit der einen Hand den Rock der Bewußtlosen hochschob und mit der anderen ihren Puls suchte.
»Ich weiß nicht. Vor einer halben Stunde vielleicht. Sie hätte gleich in der ersten Nummer auftreten müssen. Sie ist die ›Goldene Nachtigall‹, wissen Sie. Na ja, und da erscheint
er
plötzlich hinter der Bühne …«
Während Samantha sich den Bericht anhörte, versuchte sie festzustellen, was die Frau sich angetan hatte. Flammender Zorn schoß in ihr hoch. Zu welchen Verzweiflungstaten Frauen getrieben werden konnten!
»Sie hatten einen Riesenkrach. Wir haben’s alle mitangehört. Sie sagte ihm, daß sie ein Kind kriegt, und er sagt, es wäre bestimmt nicht von ihm, {237} sie wäre nichts als eine elende Hure. Sie flehte ihn an, er solle sie nicht verlassen, sie hat geheult und geschrien, aber der Kerl beschimpfte sie nur. Als er gegangen war, schickte Mr. Martinelli, das ist der Direktor, mich zu ihr, um sie zu beruhigen, und da hab’ ich sie mit der Stricknadel erwischt. Es war schon zu spät, um noch was zu tun. Sie blutete wie verrückt …«
»Holen Sie meinen Fahrer herein«, sagte Samantha. Sie zog den Rock der Bewußtlosen wieder herunter und legte ihr die Decke fest um die Beine.
»Das Handtuch war meine Idee«, sagte die Frau, ehe sie hinauslief. »War das richtig, Doktor?«
»Sie haben ihr wahrscheinlich das Leben gerettet.«
Während Samantha im schwankenden Wagen über ihre bewußtlose Patientin gebeugt saß, überlegte sie fieberhaft. Die Frau hatte sich schweren Schaden zugefügt; sie hatte die Gebärmutter und das Peritoneum durchbohrt, vielleicht auch den dahinterliegenden Darm. Samantha wußte, daß ihre Chancen gleich Null waren. Es sei denn, sie wurde auf der Stelle operiert.
Samanthas Gedanken eilten voraus. An diesem Abend fand bei Dr. Prince eine Weihnachtsfeier statt, und praktisch das gesamte Personal war dort. Fünf der Assistenzärzte hatten die Erlaubnis erhalten, nach Hause zu fahren. Zurückgeblieben waren nur Samantha, die den Notdienst übernommen hatte, und Dr. Weston, der auf Station war.
Samantha versuchte zu berechnen, wie lange es dauern würde, einen der Chirurgen von der Weihnachtsfeier zu holen. Viel zu lange, dachte sie entsetzt.
Sie rannte Jake, der die Bewußtlose durchs Foyer trug, voraus. Dr. Weston saß im Ärztezimmer vor dem Ofen, als Samantha hereinstürzte und sich ihr Cape von den Schultern riß.
»Ist außer uns noch jemand im Haus, Doktor?«
Er schüttelte den Kopf. »Was ist denn los?«
»Versuchter Abort. Ich glaube, sie hat innere Verletzungen. Sie verblutet, Dr. Weston. Sie muß sofort operiert werden. Können Sie operieren?«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich hab’ gerade erst in der Chirurgie angefangen. Ich hab’ von Tuten und Blasen keine Ahnung. Schicken Sie lieber Jake, daß er jemanden holt.«
Samantha wirbelte herum. »Jake, holen Sie uns einen Arzt, irgendeinen. Wer am schnellsten zu erreichen ist. Aber tragen Sie sie erst in den Operationsaal hinauf.«
»Was –«, begann Dr. Weston.
{238} Sie drehte sich nach ihm um. »Wir müssen anfangen, Doktor. Wir haben keine andere Wahl. Die Frau ist in einem kritischen Zustand. Wir können nicht warten.«
»Aber wir können doch nicht einfach –«
»Wir können, Doktor. Wir müssen. Können Sie Narkose geben?«
»Aber, Dr. Hargrave, Sie waren noch nie –«
»Jake, gehen Sie los! Kommen Sie, Doktor. Wir haben keine Zeit.«
Auf der Treppe kam ihnen Mrs. Knight entgegen, die das Bimmeln der Notglocke gehört hatte. »Was geht hier vor, Dr. Hargrave?«
»Wir bringen die Frau in die Chirurgie hinauf. Würden Sie uns bitte helfen?«
»Aber wer soll denn operieren?« fragte Mrs. Knight, als Samantha sich an ihr vorbeidrängte.
»Ich«, antwortete Samantha kurz und lief weiter.
Sie arbeitete schnell und systematisch. Sie war angespannt und ein wenig beklommen, aber die
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