Sturmjahre
aber ich hatte nicht erwartet, daß {242} Sie so – so … Nun, ich hatte eine ältere Frau erwartet. Sehen Sie, ich habe soviel von Ihnen gehört und in den Zeitungen gelesen, daß ich – äh – nun ja …« Er wedelte mit der Hand. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Doktor. Ich möchte Ihnen nur einige Fragen stellen, wenn sie gestatten. Ich habe nämlich von Ihrer Operation neulich gehört, Dr. Hargrave, und würde darüber gern mit Ihnen sprechen.«
Dr. Fremont überlegte einen Moment, als hätte er Mühe, den rechten Anfang zu finden, dann sagte er. »Dr. Hargrave, Dr. Rawlins berichtete mir, daß Sie Ihre Instrumente und Ihre Hände in Karbol wuschen, ehe Sie die Operation begannen. Darf ich fragen, warum Sie das getan haben?«
»Mein erster Lehrer, Dr. Joshua Masefield, hat mir das so gezeigt. Es ging ihm um die Keimfreiheit.«
»Dann halten Sie also die Mikrobentheorie für richtig?«
»Ich kann nicht sagen, ob sie richtig ist oder nicht. Aber wenn es Keime gibt, dann vernichtet das Karbol sie, und die Gefahr der Wundinfektion wird dadurch verringert. Wenn es andererseits keine gibt, schadet das Karbol jedenfalls nicht.«
Dr. Fremont nickte nachdenklich. »Ich reinige seit Jahren alle Wunden mit Wein. Er enthält ein Polyphenol, das noch stärker ist als Karbol. Und seit Jahren lachen meine Kollegen mich aus. Aber mir starben weniger Patienten an Infektionen, und jetzt, wo Louis Pasteur nahe daran ist zu beweisen, was bisher nur Spekulation war, lachen meine Kollegen nicht mehr ganz so spöttisch.« Seine kleinen Augen schweiften zu Silas Prince und kehrten dann zu Samantha zurück. »Wie ich hörte, Dr. Hargrave, baten Sie außerdem Dr. Weston, den Puls der Patientin während der Operation zu überwachen. Darf ich fragen, warum?«
»So viele Patienten sterben auf dem Operationstisch an den Ätherdämpfen und aus anderen, uns unbekannten Gründen. Ich dachte mir, daß diese plötzlichen Todesfälle auf dem Operationstisch vielleicht vermieden werden können, wenn Atmung und Puls der Patienten ständig beobachtet werden.«
»Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wo haben Sie das gelernt?«
»Das habe ich mir selbst überlegt, Dr. Fremont.«
»Und wo haben Sie das Operieren gelernt?«
»Aus Büchern. Ich habe es mir selbst beigebracht.«
»Sie hatten keine formale Ausbildung?«
»Nein. Darf ich fragen, warum Sie mir alle diese Fragen stellen, Sir?«
Dr. Prince beugte sich vor und faltete die Hände auf dem Schreibtisch. »Dr. Fremont wird in Zukunft an unserem Krankenhaus tätig sein, Dr. Hargrave. Das St. Brigid’s hat Spendenmittel zur Eröffnung einer {243} neuen Spezialabteilung erhalten, einer gynäkologischen Abteilung. Sie wird im Erdgeschoß im Ostflügel untergebracht werden. Dr. Fremont wird die Abteilung leiten und einen unserer Assistenzärzte zur Ausbildung zugeteilt bekommen.«
Samantha richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Dr. Fremont, der freundlich sagte: »Verzeihen Sie mir diesen Schwall von Fragen, Dr. Hargrave, aber als Dr. Rawlins mir von Ihrer Leistung im Operationssaal berichtete …«
Einen Moment lang stand Samantha wieder mit Mark im Operationssaal wie in jener Nacht, spürte seine Nähe, die Stärke und Ruhe, die von ihm ausstrahlten, fühlte die warme Berührung seiner Hände, die sie führten. Diese besondere Stunde, das wußte Samantha, würde sie und Mark für immer miteinander verbinden, gleich, wohin ihre Wege sie führen würden.
»Und darum, Dr. Hargrave«, sagte Landon Fremont gerade, »wäre es mir eine Ehre und eine Freude, wenn Sie mit mir in dieser neuen Abteilung zusammenarbeiten würden.«
»Dr. Fremont, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sie warf einen Blick auf Dr. Prince. Sein Gesicht war wie versteinert. »Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Ich nehme Ihren Vorschlag mit Freuden an und versichere Ihnen, daß Sie niemals Anlaß haben werden, Ihr Angebot zu bereuen.«
Landon Fremont stand auf und reichte Samantha die Hand. Silas Prince überraschte sie damit, daß er sich ebenfalls erhob und ihr die Hand bot.
»Ich wünsche Ihnen viel Glück, Dr. Hargrave«, sagte er nicht ganz so kühl und distanziert wie sonst.
6
Unter den Fundamenten des St. Brigid’s Krankenhauses lagen die Gebeine von Selbstmördern, die im achtzehnten Jahrhundert an der öffentlichen Straße verscharrt worden waren, nachdem man ihnen spitze Holzpfähle durch das Herz getrieben hatte. Als Samantha an diesem Sommerabend durch die Räume ging und die
Weitere Kostenlose Bücher