Sturmjahre
diese Spülungen wirkten selten. Jetzt lag die junge Frau bewußtlos im Bett, und Samantha konnte nur in ohnmächtigem Bedauern zusehen, wie sie langsam starb.
Eines vor allem hatte Samantha in den letzten sechs Monaten bei der Zusammenarbeit mit Landon Fremont gelernt: Die gynäkologische Praxis brachte mehr Enttäuschung als Erfolgserlebnisse. Es gab viel mehr Todesfälle als glückliche Genesungen. Im Grunde war die Gynäkologie eine völlig unterentwickelte Wissenschaft, die sich größtenteils auf Halbwahrheiten und Spekulationen gründete. Solange chirurgische Eingriffe im Bauchraum nicht möglich waren, weil die geeignete Methode dazu noch nicht gefunden war, solange waren Frauen mit Gebärmuttergeschwüren, Eileiterschwangerschaften und ähnlichen Unterleibsbeschwerden automatisch zum Tode verurteilt.
Samantha sah Mildred mit dem Tee hereinkommen und setzte sich, da die junge Patientin sich beruhigt hatte, wieder zu ihr. Während sie sich einschenkte, dachte sie wieder an Janelle MacPherson, die sie seit Weih {246} nachten nicht mehr im Krankenhaus gesehen hatte, obwohl ihre Schwester Letitia weiterhin getreulich kam.
Bei dem Gedanken an Letitia MacPherson erfaßte Samantha plötzlich Unbehagen. Sie hatte das lebhafte junge Mädchen von Anfang an gemocht und hatte es ihr hoch angerechnet, daß sie stets ein freundliches Wort für jeden hatte. Die meisten wohltätigen Damen der guten Gesellschaft schwebten in ihren teuren Garderoben durch die Krankensäle, vermieden es tunlichst, den Patienten zu nahe zu kommen, behandelten die Schwestern und Samantha kaum besser als Dienstboten. Letitia jedoch schien keine Klassenunterschiede zu kennen. Sie behandelte die schwer arbeitenden Schwestern mit freundlichem Respekt und wechselte ab und zu ein paar Worte mit Samantha. Sie war ein strahlendes junges Geschöpf, das jeder gern sah.
Aber irgendwann im vergangenen Monat hatte Samantha eine Beobachtung gemacht, die, wenn auch zunächst nur flüchtig, ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie war dabei gewesen, bei einem Patienten den Verband zu wechseln und hatte, als sie nach der Schere griff, zur Tür geblickt. Dort hatte sie Letitia bemerkt, die in einem allem Anschein nach recht vertraulichen Gespräch mit Dr. Weston beisammen stand. Der junge Mann schien, nach seinem breiten Grinsen zu urteilen, ganz hingerissen gewesen zu sein von der Aufmerksamkeit der jungen Dame. Samantha hätte die Sache wahrscheinlich schnell wieder vergessen, wenn sie nicht, wiederum rein zufällig, in der folgenden Woche Letitia in ähnlichem Tête-à-tête mit Dr. Sitwell beobachtet hätte.
Danach hatte Samantha etwas genauer auf Letitia geachtet, wenn sie mit ihren freundlichen Gaben ins Krankenhaus kam, und hatte festgestellt, daß Letitia es jedesmal ganz unverhohlen darauf anlegte, die Aufmerksamkeit des gerade diensthabenden Arztes auf sich zu ziehen, um ihn dann mit ihrem reizenden Lächeln und ihren strahlenden Augen zu becircen. Sie genoß ihre Wirkung auf Männer; aber wußte sie auch, daß sie mit dem Feuer spielte? Sie war gewiß wie alle jungen Mädchen der guten Gesellschaft streng behütet aufgewachsen; der wöchentliche Besuch im Krankenhaus war für sie vermutlich die einzige Gelegenheit, sich in ein Spiel zu stürzen, das sie reizte, dessen Regeln sie jedoch nicht kannte. Samantha hatte die Absicht in Dr. Sitwells Blicken klar und deutlich gesehen; Letitia offensichtlich nicht.
»Was fehlt Mrs. Mason, Doktor? Bett zehn. Sie ist heute morgen eingeliefert worden.«
Samantha drehte den Kopf und versuchte, zum Bett hinüberzusehen, aber das andere Ende des Saals war in tiefen Schatten getaucht. »Ihre {247} Haut ist gelblich verfärbt, und sie hat immer wieder heftige Schmerzen im Oberbauch. Es könnte etwas mit der Gallenblase sein.«
»Kann man etwas für sie tun, Doktor?«
Samantha wollte gerade »Nein« sagen, als die Tür zum Saal geöffnet wurde. Ein Mann trat ein und blieb, eine vom einfallenden Licht umrissene Silhouette, an der offenen Tür stehen. Es hätte irgendein beliebiger Mann sein können, aber Samantha erkannte ihn sofort.
Langsam stand sie auf, stellte ihre Tasse nieder und ging, wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen, zur Tür.
»Dr. Rawlins«, sagte sie, als sie ihn erreicht hatte, und gab ihm die Hand.
Sein Händedruck war warm und fest. »Wie schön, daß ich Sie treffe. Es ist ja schon so spät.«
Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit fielen von ihr ab, und das, was sie zu verdrängen gesucht
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