Sturmjahre
wochenlange Arbeit auf den Stationen hatte sie dazu erzogen, sich jeweils nur auf das zu konzentrieren, was gerade anstand – für Panik war jetzt keine Zeit. Während sie in den Schränken nach Dingen suchte, die sie brauchte – sie war ja nie zuvor in einem Operationssaal gewesen –, zündete Mrs. Knight die Lampen an und Dr. Weston schnallte die Patientin auf dem Operationstisch an.
Ätherdämpfe stiegen schon in die Luft auf, als Samantha ihre Instrumente zu einem Becken trug. »Mrs. Knight«, sagte sie, »würden Sie bitte Karbol in das Becken gießen.«
»Auf die Instrumente?« Das Gesicht der Oberschwester zeigte Verwunderung, aber sie gehorchte ohne Widerrede.
Samantha ließ die blutverschmierten Metzgerschürzen an ihren Haken hängen und befestigte statt dessen mit ein paar Nadeln ein sauberes Handtuch auf ihrem Kleid. Dann tauchte sie zum Erstaunen der anderen im Raum die Hände in die Karbollösung.
»Mrs. Knight«, sagte sie ruhig, »würden Sie bitte die Beine der Patientin halten?« Im stillen aber flehte sie: O Gott, Jake, beeilen Sie sich.
Die Blutungen hatten nachgelassen, aber das war nicht unbedingt ein gutes Zeichen; die Frau konnte innere Blutungen haben. Und das Licht war unmöglich – in der Regel wurde nur morgens operiert, wenn die Beleuchtung am besten war. Bei trübem Himmel wurden Operationen abgesagt, und abends wurde kaum je eine Operation versucht.
Samanthas Mund war wie ausgedörrt, und in ihren Ohren war ein beständiges Dröhnen. »Mrs. Knight, ich brauche mehr Licht. Vielleicht kann man noch eine Lampe herholen.« Von den Ätherdämpfen wurde ihr {239} einen Moment schwindlig. »Dr. Weston, das müßte fürs erste reichen. Ein paar Tropfen alle paar Minuten bitte …«
Samantha nahm ein Tenakel aus dem Becken, wartete einen Moment, bis ihre Hand ruhig geworden war, und führte es vorsichtig ein. Sie sah die Lehrbuchillustration vor sich und im nächsten Moment das Bild Elizabeth Blackwells, wie sie ruhig und sicher Mrs. Steptoe versorgte. Nachdem Samantha mit dem Instrument den Gebärmutterhals zu fassen bekommen hatte, manipulierte sie den Uterus und konnte im Licht der Lampe, die Mrs. Knight auf den Operationstisch gestellt hatte, die Perforation erkennen.
Während sie im stillen darum betete, daß Jake endlich mit einem Arzt zurückkommen würde, sagte sie völlig ruhig: »Was macht der Puls, Dr. Weston?«
»Ungefähr neunzig und stabil.«
»Würden Sie ihn bitte unter Beobachtung halten? Prüfen Sie ihn alle paar Minuten.« Bitte Gott, gib mir Kraft. Laß sie mir nicht sterben …
Die Minuten dehnten sich ins Endlose. Außer dem gelegentlichen Klirren der Instrumente war es grabesstill im Raum. Und sehr kalt. Dr. Weston fröstelte. Die Brust der Patientin hob und senkte sich in sanften Atembewegungen. Samantha arbeitete stumm, den Mund krampfhaft zusammengepreßt, während Mrs. Knight ihr gegenüber stand und auf ihre Befehle wartete.
Samantha hatte das Gefühl, als wären ihre Finger erstarrt, drohten jeden Moment, ihr den Dienst zu versagen. Immer wieder mußte sie die aufsteigende Panik niederkämpfen, und während sie jeden Handgriff ausführte, wie das Lehrbuch ihn vorschrieb, lief in ihrem Inneren ein erbittertes Streitgespräch ab: Ich hätte das gar nicht anfangen sollen, ich hätte mich darauf nicht einlassen sollen. Doch, ich mußte, es war die einzige Möglichkeit. Sie wäre jetzt schon tot, wenn wir auf einen Chirurgen gewartet hätten. Sie lebt noch, aber wie lange noch? Mein Gott, sie wird mir sterben. Ich hätte nicht anfangen sollen –
Da sprang die Tür auf und Mark Rawlins kam herein, Hut und Mantel voller Schnee. »Wie geht es ihr?« fragte er.
Samantha wäre vor Erleichterung beinahe in die Knie gegangen. »Sie lebt noch, Doktor. Aber es ist kritisch.«
Im nächsten Moment stand er ihr am Tisch gegenüber und begutachtete mit raschem, sachkundigen Blick Samanthas Arbeit.
»Warten Sie«, sagte er, nahm das Tenakel und und brachte es in eine andere Stellung. »So. Da haben Sie besseren Blick. Sehen Sie?«
»Ja«, antwortete sie.
{240} »Jetzt nehmen Sie diese Klemme, Doktor …« Mark führte ihr mit ruhiger Festigkeit die Hand und sagte ihr, was sie zu tun hatte. »Tupfen Sie häufiger. Achten Sie darauf, daß das Operationsfeld immer frei ist. Mrs. Knight, die Beleuchtung ist schauderhaft. Dr. Weston, die Patientin hat Schmerzen. Mehr Äther.«
Anstatt einfach zu übernehmen, wie Samantha das erwartet hatte, arbeitete Mark mit
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