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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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abgeschnitten. Die Woche über hatte sie im Krankenhaus soviel zu tun, daß sie abends nur noch todmüde in ihr Bett fallen konnte, und an ihren freien Sonntagen hinderte sie oft der hohe Schnee an einem Besuch bei Louisa und Luther.
    Mark Rawlins sah sie selten, aber manchmal hatte sie das Gefühl, daß er die Begegnung mit ihr suchte. Im allgemeinen sahen sie sich in der Kantine, wo er sie, wenn auch im Gespräch mit Kollegen, ganz unverhohlen anzustarren pflegte. Wenn sie dann zu ihm hinüberschaute, nickte er lächelnd, mit einem Ausdruck in den Augen, als hätten sie ein Geheimnis miteinander.
    {235} Janelle MacPherson hingegen traf sie häufig, wenn diese, von ihrem Gefolge wohlmeinender, aber gelangweilter Damen begleitet, im kostbaren Hermelin durch die Krankensäle rauschte, um die Patienten mit Decken, Bibeln und ein paar warmen Worten zu bedenken. Wenn Samantha ihr begegnete, tauschten sie einen höflich frostigen Gruß. Viel sympathischer als Janelle fand Samantha ihre jüngere Schwester Letitia, ein lebenslustiges, hübsches junges Mädchen, das gern lachte und echte Teilnahme am Schicksal der Patienten zeigte. Sie war die einzige in der Gruppe, die ab und zu stehen blieb und mit der trist gekleideten jungen Ärztin ein paar freundliche Worte wechselte.
    Wenn Samantha abends nicht zu müde war, übte sie in der Abgeschlossenheit ihres kleinen Zimmers weiterhin den Umgang mit dem Skalpell an ihrem Kissen. Oft fühlte sie sich einsam und allein gelassen in ihrem Bemühen, besonders wenn um die Weihnachtszeit Gesang und Gelächter ihrer männlichen Kollegen durch den Korridor schallten, aber sie verfolgte ihr Ziel mit unerschütterlicher Entschlossenheit. Sie wußte jetzt in der Theorie alles, was es zu wissen gab, kannte jeden einzelnen Handgriff, ging ruhig und sicher mit den Instrumenten um, hatte die diffizile Kunst des Nähens gemeistert. Aber eine Gelegenheit, ihr Können praktisch anzuwenden, hatte sich bis jetzt nicht ergeben.
     
    Das erste Läuten riß sie aus tiefem Schlaf, beim zweiten rannte sie schon in ihrem pludrigen Kostüm durch den Korridor.
    Jake erwartete sie füßestampfend neben den schnaubenden Pferden. »Verdammt kalte Nacht, Doc«, sagte er, als er ihr auf den Wagen half.
    »Was ist es denn, Jake?«
    »Unfall im Meadowland. Mehr weiß ich nicht.«
    Samantha klammerte sich ans Geländer, als der Wagen in die Winternacht hinausschoß. Sie konnte des eisige Metall durch ihre gefütterten Handschuhe spüren. Das Meadowland. Sicher ein abgestürzter Trapezkünstler. Solche Unfälle gab es in den Varietétheatern immer wieder. Die Akrobaten und Seiltänzer wagten das Äußerste, um das Publikum in möglichst großen Scharen anzulocken.
    Während der Wagen an strahlend erleuchteten Häusern vorüberfuhr, wurde sich Samantha bewußt, daß Heiliger Abend war. Es berührte sie nicht sonderlich. Sie hatte den Notdienst freiwillig übernommen, damit ihre Kollegen mit ihren Familien feiern konnten. Die Arndts hatten sie zum Abendessen eingeladen, aber sie brauchten sie nicht; sie hatten nur Augen für ihren kleinen Johann. Es ist ein Abend wie jeder andere, sagte sich Samantha.
    {236} Die Fassade des Meadowland funkelte und glitzerte wie ein bunter Weihnachtsbaum. Besucher in langen Abendkleidern und schwarzen Capes gingen von ihren Wagen vorsichtig über den vereisten Bürgersteig zum Theatereingang. Einige drehten die Köpfe, als der Rettungswagen vorfuhr. Dann kam schon ein nervöser kleiner Mann angeschossen. »Frau Doktor«, sagte er hastig, während er sich nach allen Seiten umsah, »bitte kommen Sie zum Bühneneingang. Ohne Aufsehen, bitte.«
    Samantha und Jake folgten dem Mann durch die Seitentür zu den Garderoben, wo so kurz vor dem Beginn der Vorstellung allgemeine Hektik herrschte.
    »Ausgerechnet diesen Abend mußte sie sich aussuchen«, jammerte der nervöse kleine Mann, als sie vor einer Tür haltmachten, die mit einem glitzernen Stern dekoriert war. »Wir haben ein absolut volles Haus. Und ausgerechnet dann muß sie diese Dummheit machen.«
    Er führte sie in die hell erleuchtete Garderobe mit blinkenden Spiegeln und grellbunten Kostümen, die säuberlich an vielen Haken hingen. Zwei Frauen befanden sich in dem kleinen Raum; die eine lag auf einer Chaiselongue, die andere kniete an ihrer Seite. Nur sie reagierte, als die Tür sich öffnete.
    »Es ist die Ärztin vom St. Brigid’s«, sagte der Theaterdirektor.
    Die Frau, die neben der Chaiselongue kniete, stand auf, als Samantha

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