Sturmjahre
Hargrave. Ich fürchtete, Sie würden wie so viele Ärzte eine Meisterin geschickter Ausweichmanöver und beschönigender Lügen sein. Aber im Laufe dieses Abends habe ich gesehen, daß sie stark und aufrichtig sind und daß Sie mir die Wahrheit sagen werden.«
»Worüber, Mrs. Rawlins?«
»Wie lange ich noch zu leben habe.«
Samantha starrte sie bestürzt an. Ehe sie etwas sagen konnte, fügte Clair hinzu: »Ich möchte, daß Sie mich untersuchen. Wie machen wir das am besten?«
{255} »Wo soll ich Sie denn untersuchen?«
»An der Brust.«
Samantha stellte ihr Glas nieder und stand auf.
»Am bequemsten wäre es auf dem Sofa. Aber Sie müßten sich freimachen.«
Clair wedelte wegwerfend mit der Hand. »Falsche Scham ist nicht meine Sache. Nur seien Sie offen mit mir, bitte.«
Einige Minuten später sagte Samantha: »Wie lange haben Sie diesen Knoten schon, Mrs. Rawlins?«
»Vier Monate.«
»Warum sind Sie nicht gleich zum Arzt gegangen?«
»Miss Hargrave, ich habe mich in meinem ganzen Leben keinem Mann außer meinem eigenen Ehemann gezeigt.«
»Das ist törichter und gefährlicher Stolz.«
»Das weiß ich, Miss Hargrave. Ich dachte außerdem, der Knoten würde wieder weggehen. Wie lange noch?«
Der Knoten hatte die Größe einer Mandarine, war steinhart, klar umrissen, und die Brustwarze war eingezogen. Samantha tupfte sie mit dem Taschentuch. Ein brauner Fleck blieb auf dem weißen Leinen zurück. Auch in der Achselhöhle hatte sie Knoten entdeckt.
»Einige Monate, mehr auf keinen Fall.«
»Das ist zu wenig; zu bald nach dem Tod meines Mannes. Meine Familie braucht mich noch. Ich brauche wenigstens ein Jahr.«
»Das kann
ich
Ihnen nicht geben.« Sie half Clair in ihr Hemd. »Wenn Sie sofort einen Arzt aufgesucht hätten, Mrs. Rawlins, hätte er die Brust abnehmen können –«
»Nein! Das hätte ich nicht gewollt. Meine Schwester ist an Brustkrebs gestorben, Miss Hargrave. Ihr hat man die Brust abgenommen. Sicher, sie lebte ein wenig länger, aber was war das für ein Leben! Man hatte alle Muskeln entfernt, so daß der eine Arm überhaupt nicht mehr zu gebrauchen war, und ihre Schulter war beinahe bis zum Brustbein nach vorn gezogen. Sie war grauenvoll verstümmelt und hatte ständig Schmerzen. Nach der Operation hat sie ihr Zimmer nie wieder verlassen. Nur ihre Familie durfte zu ihr. Freunde wollte sie nicht sehen. Ja, Miss Hargrave, mein Leben wäre durch so eine Operation vielleicht ein wenig verlängert worden, aber was für eine Qualität hätte dieses Leben denn gehabt?«
Samantha half Clair beim Zuknöpfen ihres Kleides. »Weiß es Mark?«
»Wenn ich damit zu Mark gegangen wäre, hätte ihn das viel zu stark erschüttert. Ich – ich habe eine besondere Beziehung zu ihm. Es ist schwer genug, ein solches Urteil hinnehmen zu müssen; ich hätte es {256} nicht von dem Sohn hören wollen, den ich liebe. Und er darf nichts davon wissen, Miss Hargrave. Es wäre zu schlimm für ihn. Keiner darf etwas erfahren. Es soll bis zuletzt ein Geheimnis bleiben.«
Sie kehrten zu ihren Sesseln zurück, und Clair nahm ihr Glas. »Brumaire«, sagte sie leise. »Der Lieblingsbrandy meines Mannes. Nicholas wurde von keinem seiner Söhne geliebt. Ich glaube, Joseph und Henry sind insgeheim froh über seinen Tod. Keiner vermißt ihn, das weiß ich. Und jetzt frage ich ich mich, wie mein Tod aufgenommen werden wird.« Clair sah Samantha mit tränenfeuchten Augen an. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, Miss Hargrave. Ich bin nur noch nicht bereit –« Ihre Stimme brach.
Samantha legte schweigend ihre Hand auf die Clairs. Werde ich im Alter auch wie Clair Rawlins sein, immer noch um meine Würde kämpfend, auch wenn alles gegen mich ist? dachte sie.
Clair tätschelte Samanthas Hand. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie noch ein Weilchen bei mir sitzenbleiben würden, Miss Hargrave.«
Mark saß Samantha im leise schwankenden Wagen gegenüber und betrachtete ihr Gesicht. Seit dem Gespräch in der Bibliothek war sie still und ernst; es beunruhigte ihn, denn er wußte, wie seine Mutter sein konnte. Gleichzeitig war er verwundert und neugierig; er hätte gern gewußt, was hinter den verschlossenen Türen gesprochen worden war.
»Jetzt, wo Sie meine Mutter kennengelernt haben«, sagte er, als der Wagen in den nächtlich belebten Broadway einbog, »würde ich gern hören, was Sie von ihr halten.«
Samantha zwang sich zu einem Lächeln. »Sie ist eine bemerkenswerte Frau.«
»Worüber haben Sie sich denn so
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