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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Lee
mit großem Einfühlungs {253} vermögen, und Samantha wäre sicher ergriffen gewesen, wäre ihr nicht anderes im Kopf herumgegangen. Während sie alle mit ihrem Kaffee im Salon saßen, wo man die Lichter des Effekts wegen heruntergedreht hatte und Letitia mit dramatischer Geste ihr Gedicht vortrug, kämpfte Samantha mit der Enttäuschung darüber, daß sie diese Einladung nicht Mark, sondern Clair zu verdanken hatte. Sie hatte offenbar Marks Absichten völlig mißverstanden.
    Als Letitia mit schmerzlich klagender Stimme rief: »›I was a child and she was a child, In this kingdom by the sea, But we loved with a love that was more than love …‹«, sah Samantha zu Mark hinüber, der, die Beine vor sich ausgestreckt, im Halbdunkel saß, und merkte, daß sein Blick auf sie gerichtet war. Sein Gesicht war im Schatten, sein Ausdruck nicht zu erkennen, aber Samantha, die wie gebannt in die dunklen Augen starrte, nahm diesen intensiven Blick wie eine zärtliche Berührung voll männlicher Kraft und männlichen Begehrens wahr.
    Freundlicher Applaus riß sie in die Wirklichkeit zurück. Stephen drehte die Lampen höher, und alle lobten Letitias Darbietung. Mark stand auf und kam zu ihr, sein Gesicht ernst, beinahe grüblerisch.
    »Hat Ihnen das Gedicht gefallen?« fragte er so leise, daß nur sie es hören konnte. »Es ist so unendlich traurig.«
    »Vielleicht liegt gerade darin seine Schönheit.«
    Jetzt erhoben sich auch die anderen und machten Anstalten, auseinanderzugehen, die Herren zu ihren Zigarren, die Damen zu einem Gläschen Likör. Samantha und Mark jedoch rührten sich nicht von der Stelle.
    »Welches ist denn Ihr Lieblingsgedicht, Dr. Hargrave?« fragte Mark.
    Samantha überlegte einen Moment. Gerade als sie antworten wollte, trat Clair zu ihnen.
    »Miss Hargrave, darf ich Sie jetzt bitten?«
     
    Samantha setzte sich in einen Ledersessel, der nach Zitronenöl roch, und wartete, während Clair zwei Gläser Brandy einschenkte. Sie hatten sich in die Bibliothek zurückgezogen, einen großen, holzgetäfelten Raum mit hohen Bücherschränken und einem offenen Kamin. Von der Wand über dem Kamin blickte aus goldenem Rahmen Nicholas Rawlins, der Eiskönig, auf sie hinunter.
    Clair reichte Samantha ein Glas und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber.
    »Ich habe Freundinnen bei den Temperenzlern, die sich entsetzlich über meine kleine Vorliebe für einen Brandy aufregen, während sie gleichzeitig flaschenweise alle möglichen Elixire aus der Apotheke in sich hinein {254} gießen, die soviel Alkohol enthalten, daß man einen Elefanten damit betäuben könnte. Sogar Nicholas machte mir immer wieder Vorhaltungen.«
    Sie sah zu dem Porträt auf, und ihre Stimme wurde weich. »Er war ein schwieriger Mensch, Miss Hargrave, und es war nicht leicht, ihn zu lieben, aber gerade, weil ich ständig um ihn kämpfen mußte, war er mir um so teurer.«
    »Sein Tod muß Ihnen sehr nahe gegangen sein.«
    »Ja«, antwortete sie einfach und fügte dann hinzu: »Aber kommen wir zur Sache, Miss Hargrave. Ich mache kein Hehl daraus, wie Sie gemerkt haben werden, daß ich von berufstätigen Frauen – Ärztinnen, Anwältinnen, Richterinnen, Fotografinnen – nicht viel halte. Sie geben zuviel auf. Ich finde unweibliche Frauen schrecklich. Und doch – Sie werden mich für eine Heuchlerin halten – sehe ich mich gezwungen, mich gerade deshalb an Sie zu wenden, weil sie Ärztin sind. Ich brauche Ihren Rat, Miss Hargrave.«
    Clair trank einen Schluck von ihrem Brandy und drehte das Glas nachdenklich in den Händen, ehe sie zu sprechen fortfuhr.
    »Ich war mein Leben lang kerngesund. Viel körperliche Bewegung und gesundes Essen sind meiner Meinung nach die besten Mittel zur Erhaltung der Gesundheit. Ich konnte diese blutarmen Geschöpfe, die unsere Gesellschaft herangezüchtet hat, nie ausstehen. Eine Frau kann einem Mann sowohl in geistiger als auch in körperlicher Hinsicht ebenbürtig sein, ohne deshalb gleich ihre Weiblichkeit einzubüßen. Und ich habe in meinem ganzen Leben nie einen Arzt konsultiert, Miss Hargrave.«
    Samantha glaubte ihr das gern. Sie sah den harten Panzer, den diese Frau sich zugelegt hatte, um den Zwängen der Gesellschaft und den despotischen Ansprüchen ihres Mannes Grenzen setzen zu können. Aber hinter der Fassade sah Samantha noch eine andere Frau, deren gefühlvolles, weiches Wesen sich in den warmen braunen Augen spiegelte.
    »Ich fürchtete, Sie würden nicht das sein, was ich suchte, Miss

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