Sturmjahre
vorzutragen.
Als Mark zur Anrichte ging, um Janelles Glas aufzufüllen, nahm Stephen die Gelegenheit wahr, um sich zu Samantha zu setzen.
»Unsere Mutter läßt die
New York Herald
in diesem Haus nicht zu, Dr. Hargrave. Sie ist in ihren Augen nur ein Sensationsblatt. Aber ich lese sie ziemlich regelmäßig und bin über Ihre erstaunlichen Unternehmungen bestens informiert.«
»Ich fürchte, die Berichte sind stark übertrieben, Mr. Rawlins.«
»Das kann ich kaum glauben, wenn ich daran denke, wie Mark über Sie spricht. Ich hatte Sie mir zwei Meter groß und mit Schild und Speer bewaffnet vorgestellt.«
Samantha warf einen Blick auf Mark, der wieder bei Janelle am Kamin stand. Die beiden schienen ein ernstes Gespräch zu führen, nicht die Spur eines Lächelns lag auf Marks Gesicht, und Janelle, die ihm den Kopf zuneigte, sprach mit eindringlicher Ernsthaftigkeit.
In diesem Augenblick öffnete sich die Flügeltür, und Clair Rawlins trat ein. Das Klavierspiel brach so abrupt ab, als wäre das Instrument durch einen Mechanismus mit der Tür verbunden, und die vier Brüder unterbrachen augenblicklich ihre Gespräche.
Clair Rawlins war eine Frau von gebieterischer Würde, groß und schlank, mit fließenden Bewegungen, die trotz des Alters nichts von ihrer Geschmeidigkeit eingebüßt hatten. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und musterte die kleine Gesellschaft im Salon durch die blitzenden Gläser eines Lorgnons.
»Guten Abend«, sagte sie, und Samantha hatte den Eindruck, einer Musterung unterzogen zu werden. Dann trat Mark zu ihr.
»Mutter«, sagte er, »darf ich dir Dr. Samantha Hargrave vorstellen? Dr. Hargrave – meine Mutter, Mrs. Rawlins.«
{250} Die alte Dame senkte das Lorgnon, und Samantha sah mit Überraschung, daß sie die gleichen warmen braunen Augen hatte wie Mark. Unerwartete Weichheit und Güte spiegelten sich in ihnen. Es waren die Augen einer Frau, die geliebt und gelitten hatte.
»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. Rawlins.«
»Und ich freue mich, daß Sie heute abend zu uns kommen konnten, Miss Hargrave. Mark gönnt uns nur selten das Vergnügen, seine Kollegen kennenzulernen.«
»Mutter, möchtest du ein Glas Champagner?«
Sie winkte ab. Brillanten funkelten an ihrem Arm. »Champagner verdirbt den Appetit. Ich möchte mich gern ein wenig mit unserem Gast unterhalten.«
Die anderen verstanden Ton und Worte als Zeichen dafür, daß ihre Aufmerksamkeit nicht weiter erwünscht war. Letitia setzte sich wieder ans Klavier, und auch die anderen widmeten sich wieder ihren Gesprächen, selbst Mark und Janelle, wie Samantha bemerkte.
»Ich muß gestehen, ich war sehr neugierig auf Sie, Miss Hargrave. Wie kamen Sie zum Medizinstudium?«
Es war weniger eine Frage, als ein Befehl, Auskunft zu erteilen. Während Samantha sprach, das erzählte, was sie den meisten Leuten auf diese Frage erzählte, bekam sie mehr und mehr das Gefühl, daß ihre üblichen Erklärungen diese Frau nicht befriedigen würden. Clair Rawlins wollte tiefer forschen, das spürte Samantha.
Als zum Abendessen geläutet wurde, folgte Samantha an Stephens Arm ins Speisezimmer und stellte fest, daß man ihr den Platz rechts von Clair Rawlins zugedacht hatte. Mark, der über die Sitzordnung nicht begeistert zu sein schien, saß am anderen Ende des Tisches zwischen Janelle und Letitia.
Samantha ließ sich vom Raffinement des opulenten Diners nicht einschüchtern, sondern tat so, als wäre sie es gewöhnt, jeden Tag zwölf Gänge zu speisen. Wenn sie nicht wußte, welches Besteck für den nächsten Gang zu benutzen war, trank sie einfach einen Schluck Wasser, ehe sie zu essen begann, und konnte so sehen, welche Gabel oder welchen Löffel die anderen zur Hand nahmen.
»Sagen Sie, Miss Hargrave, empfinden Sie die Arbeit, die Sie täglich tun müssen, nicht als verletzend für Ihr weibliches Feingefühl?«
Samantha nahm das Fischbesteck zur Hand und zerteilte die Forelle auf ihrem Teller. »Neben der Befriedigung, die mir meine Arbeit bringt, spielt das weibliche Feingefühl eine höchst untergeordnete Rolle, Mrs. Rawlins.«
{251} Stephen, der ihr gegenüber saß, bemerkte: »Mutter, ich glaube, Dr. Hargrave zieht es vor, mit ihrem Titel angesprochen zu werden.«
Mrs. Rawlings machte eine ungeduldige Kopfbewegung. »Unsinn. Miss Hargrave ist in erster Linie Frau und erst in zweiter Linie Ärztin. Sie zieht es deshalb zweifellos vor, wie eine Dame angesprochen zu werden. Ist das nicht richtig, meine Liebe?«
»Offen
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