Sturmjahre
niemals auf der Straße zeigte. Seine Lebensmittel ließ er sich wöchentlich liefern; die Lieferanten mußten die Pakete auf der Treppe ablegen, wo die Bezahlung in einer Blechdose bereitstand. Ein paar ganz Mutige hatten es sich nicht nehmen lassen, im Verborgenen zu warten, um den alten Hawksbill doch einmal zu Gesicht zu bekommen, und was sie darüber zu erzählen wußten, klang wahrhaft abschreckend: Schlohweiß und bucklig wäre er, und sein Gesicht so häßlich, daß einem die Augen stehenblieben, wenn man ihn direkt ansähe. Während der Name Hawksbill bei den Kindern vom St. Agnes Crescent Grusel und Angst auslöste – sie gingen immer auf die andere Straßenseite hinüber, wenn sie an seinem Haus vorbei mußten –, war er den Erwachsenen Anlaß zu Argwohn und Mißtrauen. Es kursierte das Gerücht, daß der alte Hawksbill vor Jahren ein schreckliches Verbrechen an einem kleinen Mädchen begangen hatte.
Oft stand Samantha, von Freddys schützendem Arm umfangen, auf der Straße und starrte zu dem Haus mit den blinden Fenstern hinüber.
Als Samantha sechs Jahre alt war, trat ihr Vater in ihr Leben. Sie hockte in einem schmutzigen Kleid, das ihr zu eng und viel zu kurz war, mit nackten, schmutzverkrusteten Füßen und zerzaustem Haar auf der Treppe vor dem Haus und zeichnete mit dem Finger ein Muster in den Staub an der Haustür, als Samuel, wegen der Geburtstagsfeierlichkeiten früher als sonst aus dem Büro zurück, die Treppe heraufkam. Er fuhr Samantha, die er für ein Nachbarskind hielt, barsch an und wollte sie mit dem Fuß aus dem Weg stoßen, als sie plötzlich den Kopf hob und ihm direkt in die Augen sah. Beide erstarrten einen Moment, er groß und finster, die Hand schon am Türknauf, sie zusammengekauert und schmutzig zu seinen Füßen. Reglos starrten sie einander an, so als sähe jeder den anderen zum erstenmal. Ein Schwall jahrelang aufgestauter Emotionen überschwemmte Samuel. Er sah direkt in das Gesicht seiner unvergessenen Felicity.
Schwankend zwischen Schmerz und Abscheu sah Samuel, wie das Kind mit kleiner schmutziger Hand nach seinem Hosenbein greifen wollte, und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Dann fuhr er herum, stürzte so hastig ins Haus, daß er über die Türschwelle stolperte, und brüllte nach der Haushälterin. Es folgte eine wütende Auseinandersetzung.
»Sie ist so verdreckt wie der schlimmste Straßenbengel.«
{35} »Wieso kümmert Sie das plötzlich? Sie achten doch sowieso nicht auf sie.«
»Ich bezahle Sie dafür, daß Sie sich um sie kümmern.«
»Für fünf lumpige Schilling die Woche können Sie von mir nicht erwarten, daß ich –«
Die Haushälterin wurde noch am selben Tag entlassen.
Samuel holte eine Nachbarsfrau, Mutter von zwölf Kindern, gab ihr einen Schilling als Lohn dafür, daß sie das Kind gründlich wusch und frisierte, und etwas Geld, um ihr Kleider und Schuhe zu kaufen. Wortlos und ohne Klage ließ Samantha die gründliche Wäsche mit der harten Bürste über sich ergehen, ließ es sich sogar ohne Widerstand gefallen, daß die Frau ihr Haar kämmte. Sie war wie verzaubert von dem Wunder, das geschehen war.
Ihr Vater hatte sie bemerkt.
3
Samuel stellte eine neue Haushälterin ein und setzte sich nun jeden Abend mit Samantha an den Kamin, um ihr Religionsunterricht zu erteilen.
Samantha war selig. Sie betrachtete diesen strengen, düsteren Mann als ihren Retter und Wohltäter; denn hatte er sie nicht von der Straße hereingeholt, um sich mit väterlicher Fürsorge ihrer anzunehmen? Von dem heftigen Wunsch getrieben, ihm zu gefallen, bemühte sich Samantha mit höchstem Eifer, alles zu behalten, was er ihr beibrachte, und Samuel war insgeheim beeindruckt, wie rasch sie lernte. Er behandelte seine Tochter wie fremder Leute Kind, ja, wie ein Findelkind, das zu nähren und zu lehren er aus seinem christlichen Glauben heraus verpflichtet war. Ihre beiden verschlossenen Brüder, die sie kaum kannte, pflegten an den abendlichen Bibelstunden teilzunehmen und dann zu Bett zu gehen, ohne von ihrer Existenz Notiz zu nehmen.
Tagsüber trieb sich Samantha weiterhin mit der Rotte ihrer wilden Freunde in Straßen und Gassen herum, doch abends lief sie jetzt früher nach Hause, um sich zu waschen und die Kleider zu wechseln, ehe der sehnsüchtig erwartete Vater heimkehrte.
In einem wesentlichen Punkt unterschied sich Samantha von den Straßenkindern des Viertels: Sie bewahrte sich trotz aller mutwilligen Streiche und kleiner Gaunereien, an denen
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