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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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im St. Agnes Crescent innerhalb weniger Jahre verfünffacht hatten. Die Folge war, daß aus dem adretten Kleinbürgerviertel schnell ein von Armen und Arbeitslosen wimmelndes Elendsquartier geworden war.
    Zu beiden Enden der Straße standen Gasthäuser, das
King’s Coach
und das
Iron Lion.
Im Erkerfenster des den Hargraves benachbarten Hauses hing ein Schild mit der Aufschrift ›Wäschemangel – Zwei Pence pro Stück‹, aber die Leute, denen die Mangel gehört hatte, waren längst weggezogen, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, das Schild aus dem Fenster zu entfernen. Auf der anderen Straßenseite war eine verräucherte Imbißstube, wo sich Erdarbeiter und Prostituierte herumtrieben, und straßauf, straßab wimmelte es zwischen Gemüsekarren und fliegenden Händlern von Bettlern und Horden von Gassenjungen.
    Die Haushälterin, deren liebste Tageszeit der späte Nachmittag war, wenn sie mit einer Waschfrau aus der Nachbarschaft ihren Tee trank, pflegte sich in vorwurfsvollem Ton darüber zu wundern, daß Mr. Hargrave, der doch beim Standesamt ein anständiges Gehalt bekam, in diesem heruntergekommenen Viertel blieb, anstatt wie viele seiner alten {31} Nachbarn das Haus zu verkaufen und in eines der hübschen neuen Häuser in der Brixton Road zu ziehen. Das war nur eine Klage, die sie zu führen hatte; die zweite bezog sich auf das Kind.
    »Halten Sie die Kleine sauber, sagt er zu mir«, berichtete sie eines Tages bei Tee und Butterbrötchen. »Ausgerechnet er, der er sich benimmt, als wär’ sie überhaupt nicht vorhanden. Als ich vor fast vier Jahren bei ihm anfing, sagte er, ihm käm’s vor allem auf zwei Dinge an: daß ich dafür sorge, daß die Kleine ruhig ist und ihm nicht in die Quere kommt, und daß ich sie sauberhalte. Ruhig halten kann ich sie leicht; sie redet ja sowieso keinen Ton. Die ist nicht ganz richtig im Kopf, wenn Sie mich fragen. Ein richtiges unheimliches kleines Ding ist die. Schleicht dauernd irgendwo im Dunklen rum, ohne daß man’s merkt. Soundsooft ist mir’s passiert, daß ich mich ganz ahnungslos umgedreht hab’, und da stand sie direkt hinter mir und starrte mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen. So richtig durchdringend, wissen Sie. Unheimlich, wirklich. Und ich frag’ Sie, wie ich die Kleine sauberhalten soll, wenn der Herr so sparsam ist, daß er mir nicht mal erlaubt, ihr neue Sachen zu kaufen. Sie hat genau zwei Kleider, und die muß ich dauernd flicken und rauslassen, weil sie so schnell wächst. Ich hab’ ihn schon ein paarmal um Geld gefragt, damit ich Stoff kaufen und ihr was Neues machen kann, aber der Mann rückt keinen Penny raus.«
    Die Freundin schnalzte teilnahmsvoll mit der Zunge.
    »Die Kleine hat noch so eine Marotte«, fuhr die Haushälterin fort, des Interesses ihrer Zuhörerin gewiß. »Sie läßt mich um keinen Preis an ihre Haare. Ich brauch’ nur den Kamm zu nehmen, und schon fängt sie an zu brüllen wie eine Wilde. Es ist fast so, als ob sie weiß, daß mit ihrem Kopf was nicht in Ordnung ist, und nicht will, daß jemand ihn anrührt. Also kämm’ ich sie eben nicht. Aber ich frag’ Sie, wie ich das Kind unter diesen Umständen sauberhalten soll!«
    Sie schaffte es nicht. Für Samantha war das von Vorteil: Als sie unternehmungslustig und mutig genug geworden war, sich den Straßenkindern anzuschließen, wurde sie dank ihrem verlotterten Äußeren sofort in die Horde aufgenommen. Vom Vater und den Brüdern, die den ganzen Tag zur Schule gingen und abends mit dem Vater über ihren Schulbüchern oder der Bibel saßen, alleingelassen, fand Samantha ihre Familie auf der Straße. Sie lernte schnell. In das Rudel eingegliedert, erforschte sie unter der Führung der älteren, pfiffigeren Kinder Hinterhöfe und Abfalltonnen, kletterte auf Bäume, machte Klimmzüge an Wäscheleinen, spielte Fangen und Verstecken. Sie lernte ungezügelte Freiheit kennen, entwickelte sich zu einem wahrhaften kleinen Haudegen und flin {32} ken Kletterer und erwarb sich, obwohl niemand ihren Namen wußte, da sie nicht sprach, rasch die Anerkennung ihrer wilden Gefährten.
    Ihr bester Freund und treuer Beschützer war ein neunjähriger Junge namens Freddy, den seine Mutter gleich nach seiner Geburt in eine Zeitung gewickelt in einer Abfalltonne deponiert hatte. Ein alter Katzenschinder, der das Wimmern des Säuglings hörte und meinte, auf einen guten Fang gestoßen zu sein, fand das ausgesetzte Kind, hatte Mitleid und nahm es zu sich. Der Alte, der sein mageres

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