Sturmjahre
ihrem Kleid und übergab sie der schockierten Haushälterin, die ihr erst eine Tracht Prügel verpaßte und sie dann ohne Abendessen ins Bett schickte.
Zwei Tage später reiste James, ihr Bruder, nach Rugby ab.
Am Morgen seiner Abreise kam der Sechzehnjährige in seinem Sonntagsanzug und mit einem abgeschabten alten Koffer in der Hand die Treppe herunter. Nachdem er steif und förmlich von seinem Vater Abschied genommen hatte, ging er zur Tür hinaus und verschwand fürs erste aus Samanthas Gesichtskreis.
Im Lauf des Jahres kamen Briefe von ihm, kurze Schreiben, die nicht {38} mehr enthielten als lakonische Beschreibungen seines Internatsalltags.
Als er nach einem Jahr zurückkehrte, groß und gut gewachsen, seinem Vater sehr ähnlich, blieb er nur kurze Zeit. Sobald die Ferien zu Ende waren, reiste er nach Oxford, und diesmal begleitete sein Vater ihn.
Am Morgen ihrer Abreise hockte Samantha, das Kinn in die Hand gestützt, auf der Treppe vor dem Haus, als plötzlich Freddy auftauchte.
»Warum machst du so ein miesepetriges Gesicht?« fragte er und ließ sich, lang und schlaksig, neben ihr auf die Treppe fallen.
»Mein Vater und mein Bruder sind mit der Eisenbahn weggefahren, und ich wär’ so gern mitgefahren.«
»Wohin sind sie gefahren?«
»Nach Oxford.«
»Und was tun sie da?«
»Keine Ahnung. James hat was davon gesagt, daß er die Medizin studieren will. Aber ich versteh’ das nicht. Wie kann man denn eine Medizin studieren?«
»Das heißt, daß dein Bruder Doktor werden will.«
»Wozu muß er denn da nach Oxford fahren? Das kann doch jeder. Den Leuten Arznei geben, die wie Gift schmeckt.«
»Ja, aber das ist nicht alles, was ein Doktor tut.« Freddy neigte sich näher zu ihr. »Die machen noch ganz andere Sachen«, erklärte er in vertraulichem Ton. »Die schneiden die Leute in Stücke, verstehst du. So richtig in Scheiben wie ein Stück Schinken.«
Samantha schüttelte den Kopf. »Ist ja gar nicht wahr. Mein Bruder würde so was nie tun.«
»Muß er aber, wenn er ein Doktor werden will.«
»Und woher weißt du das alles?«
»Ich zeig’s dir.« Freddy sprang auf und sah sie lachend an. »Kommst du mit, Prinzessin?«
Sie sah ihn mißtrauisch an. »Wohin denn?«
»Da, wo sie den Leuten die Bäuche aufschneiden.«
4
Sie folgte ihm quer durch London, die Charing Cross Road hinunter bis zur Tottenham Court Road und von da durch die University Street zum North London Hospital. Das Krankenhaus war ein dreistöckiger Bau von beeindruckender Größe. Vor dem Hauptportal ging es an diesem Morgen {39} um zehn Uhr sehr geschäftig zu. Freddy winkte Samantha und führte sie um das Gebäude herum in einen Hinterhof, wo Fuhrwerke und Kutschen warteten.
Nicht weit von der Hintertür stand eine Gruppe Medizinstudenten, frische junge Männer, die sich mit gesenkten Stimmen unterhielten. »Die machen das gleiche wie dein Bruder«, flüsterte Freddy. »Die studieren alle auf Doktor. Genau wie James.«
Samantha und Freddy duckten sich hinter einem schweren Rollwagen, um die Medizinstudenten zu beobachten, und sahen wenig später drei sichtlich aufgeregte junge Frauen in den Hof huschen. Nervös kichernd eilten sie den jungen Männern entgegen. Einer von ihnen legte mahnend den Finger auf seine Lippen, nahm dann eines der Mädchen beim Arm und zog sie mit sich durch die Tür. Als alle im Krankenhaus verschwunden waren, krochen Samantha und Freddy hinter dem Fuhrwerk hervor und schlüpften ebenfalls durch die Hintertür.
Sie gelangten in einen düsteren, schmalen Korridor mit vielen Türen auf beiden Seiten. Eine der Türen stand halb offen. Samantha spähte neugierig hinein und fuhr entsetzt zurück. Auf einem langen Tisch lag nackt und wächsern die Leiche eines jungen Mannes. Vier Männer standen mit aufgerollten Hemdsärmeln um den Tisch herum, während ein fünfter, ein hünenhafter Mann mit grauem Haar und einer blutverschmierten Fleischerschürze, mit leiser Stimme etwas erklärte.
»Na, willst du wieder heim, Angsthase?« flüsterte Freddy neben ihr.
Sie schüttelte nur stumm den Kopf und folgte ihm durch den Korridor zu einer kleineren Tür, durch die die Medizinstudenten verschwunden waren. Auf Zehenspitzen huschten sie über die Fliesen, zogen die Tür auf und fanden sich am Fuß einer dunklen Treppe. Oben war wieder eine Tür, durch die Licht und Stimmengemurmel ins Treppenhaus drangen.
»Freddy, das dürfen wir doch nicht«, wisperte Samantha.
Er stand hinter ihr, die Hand auf ihrer
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