Sturmjahre
und Ihrem teuflischen Chloroform, für immer die lebendige Erinnerung an jene Nacht begleiten …«
Einen Moment lang starrte Neville Stone den Mann entsetzt an, dann wandte er sich dem kleinen Bündel zu, das die Hebamme in den Armen hielt. Ahnte das Kind, in was für eine Unglückswelt es gekommen war? War das der Grund, weshalb es bis jetzt noch nicht einen Laut von sich gegeben hatte?
»Verzeihen Sie, Mr. Hargrave«, sagte der Arzt ruhiger, »aber wir müssen dem Kind noch seinen Namen geben. Es war der letzte Wunsch Ihrer Frau, daß das Kind Ihren Namen erhält. Meine Pflicht als Arzt und als Mensch gebietet mir, dafür zu sorgen, daß ihr Wunsch erfüllt wird, ehe ich heute nacht dieses Haus verlasse.«
Samuel wandte sich ab und blickte auf das stille weiße Gesicht seiner toten Frau.
»Gut, dann soll das Kind Samuel heißen.«
»Aber genau da liegt das Problem, Mr. Hargrave. Ihre Frau glaubte, das Kind wäre ein Junge.«
{29} Als Samuel Hargrave sich wieder umdrehte, sah Neville Stone mit Schrecken den Haß und den Abscheu in seinen dunklen Augen. Aber wem galten diese Gefühle?
»Dann wird
sie
eben meinen Namen tragen, Doktor.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Sir!«
Mit einem Aufschrei fuhr Samuel herum und fiel wieder neben dem Bett auf die Knie. Er warf die Arme über Felicitys Oberkörper und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Sein gekrümmter Rücken zuckte in lautlosem Schluchzen.
Der Arzt und die Hebamme zogen sich in eine dunkle Ecke des Zimmers zurück. »Das arme kleine Wurm«, murmelte die Hebamme. »Erst verliert es die Mutter und nun auch noch den Vater.«
»Er wird sich schon wieder fassen. Ich habe schon oft in der Stunde des Schmerzes Verwünschungen gehört, die bald danach vergessen waren. Unsere Pflicht ist es jetzt, dem armen Mann zu helfen, den letzten Wunsch seiner Frau zu erfüllen.«
»Aber was kann man denn tun, Sir? Der Mann ist besinnungslos vor Schmerz, und wer weiß, wie lang es dauert, ehe er wieder zu Verstand kommt. Und inzwischen hat das arme kleine Seelchen nicht mal einen Namen.«
Neville Stone zupfte geistesabwesend an seinem weißen Schnauzbart, während er den schluchzenden Mann betrachtete. Dann war ihm, wie durch eine Erleuchtung, plötzlich klar, was er zu tun hatte.
»Wir werden unsere Christenpflicht tun, Mrs. Cadwallader. Bitte holen Sie mir frisches Wasser, damit ich das Kind taufen kann.«
Er ging aus dem Zimmer, die Treppe hinunter in die Wohnstube, wo die zwei vergessenen kleinen Jungen warteten. Der eine stand mit großen Augen beim Kamin, in dem das Feuer fast erloschen war, der andere kauerte noch immer wie ein geschlagener Hund unter dem Tisch.
Neville Stone nahm die Familienbibel, die auf dem Tisch lag, und schlug sie auf. Als er die mit goldenen Schnörkeln verzierte Seite gefunden hatte, die das Familienregister enthielt, griff er zur Feder. Unter die Eintragung vom 14. Juni 1854, die die Geburt Matthew Christopher Hargraves bezeugte, schrieb er: ›Geboren am 4. Mai 1860, Samantha Hargrave, Tochter des Samuel Hargrave und seiner seligen Frau Felicity (Am selben Tag verschieden) …‹
{30} 2
Als der vierte Geburtstag der kleinen Samantha herankam, hatte sie noch immer kein einziges Wort gesprochen.
Sie war in ein düsteres Haus ohne Fröhlichkeit und ohne Lachen hineingeboren worden. Einzige Begleiter ihrer Kindheit waren der strenge, immer schwarz gekleidete Vater, der morgens in aller Frühe aus dem Haus ging und abends erst spät heimkehrte, ihre beiden geduckten, immer mürrischen Brüder und eine griesgrämige Haushälterin. Der war das kleine Mädchen nicht geheuer, das dauernd irgendwo in einer schattigen Ecke zu stehen schien und sie mit großen Katzenaugen anstarrte. Sie hielt das Kind für zurückgeblieben und meinte, es verdiene nicht die gleiche Fürsorge wie ein normales Mädchen. Um es aus dem Weg zu haben, pflegte sie es auf den Treppenabsatz vor dem Haus zu setzen und kümmerte sich nicht weiter um das Kind.
Der St. Agnes Crescent war eine häßliche, halbmondförmig gebogene Straße zwischen Charing Cross und High Holborn. Als Samuel Hargrave sich vor Jahren mit seiner jungen Frau hier niedergelassen hatte, war es ein anständiges Viertel der unteren Mittelklasse gewesen, mit kleinen Reihenhäusern, in denen fleißige und rechtschaffene Protestanten wie die Hargraves wohnten. Die Einwandererwellen aus dem hungernden Irland jedoch, die später ganz London überschwemmten, hatten bewirkt, daß sich die Einwohnerzahl
Weitere Kostenlose Bücher