Sturmjahre
York. Wir sollten einem Werftarbeiter ein Bein amputieren. Wir konnten ihm Äther geben, soviel wir wollten, er blieb nie so lange im Rausch, daß wir die Operation hätten durchführen können. Als wir ihn später befragten, stellte sich heraus, daß er starker Zigarettenraucher war.«
Willella betrachtete die Patientin, eine Frau mittleren Alters, der eine Zyste am Eierstock entfernt werden sollte. »Aber das kann hier doch nicht der Grund sein, oder?«
»Ich halte es jedenfalls für höchst unwahrscheinlich. Wir werden sehen. – Schwester Collins, halten Sie sie bitte unter ständiger Beobachtung, bis {317} sie ganz wach ist, und bringen Sie sie dann in ihr Bett zurück. Ich spreche später mit ihr.«
Willella verließ den Operationsraum zusammen mit Samantha. »Sie müssen in die Kinderabteilung hinuntergehen, Dr. Hargrave, und sich den Weihnachtsbaum ansehen, den das Damenkomitee da aufgestellt hat.«
»Ja, was würden wir wohl ohne unsere Damen anfangen«, murmelte Samantha und eilte schon zur Treppe. »Wir sehen uns später.«
Willella blickte ihr kopfschüttelnd nach. In den fünf Monaten ihrer Arbeit am Krankenhaus hatte sie Samantha nicht ein einzigesmal untätig gesehen. Sie war ihnen allen ein Vorbild, und wer wollte nachlassen, wenn er sah, wie unermüdlich Dr. Hargrave war. Aber manchmal hatte Willella doch ein wenig Sorge, daß Samantha sich zuviel aufbürdete.
In Gedanken bei dem Hausbesuch, von dem sie eben zurückgekehrt war, ging Willella langsam zu ihrem Zimmer, um sich frischzumachen.
Seufzend trat sie in das kleine Appartement. Die engen Zimmer störten niemanden. Die Schwestern, froh und dankbar, daß sie genommen worden waren, teilten sich die Zimmer, die kaum groß genug waren für eine Person, gern mit einer Kollegin, und die drei Ärztinnen, die alle aufgrund ihres Geschlechts bei anderen Krankenhäusern abgelehnt worden waren, fühlten sich in ihrem kleinen Appartement so wohl wie in Abrahams Schoß. Das größere der beiden Zimmer war mit drei Betten möbliert, und da ihre Schichten versetzt waren, lag fast immer eine von ihnen schlafend in ihrem Bett. Das anschließende Wohnzimmer, mit einem Teppich ausgelegt, hatte einen Kohleherd, drei Sessel und einen Tisch. Auf einem Spirituskocher konnten sie sich jederzeit eine Tasse Tee machen. Im Augenblick war das Appartement leer; Dr. Bradshaw war über Weihnachten zu ihrer Familie nach Oakland gereist, und Dr. Lovejoy war auf Station.
Willella ging zum Waschtisch und während sie sich die Hände einseifte, musterte sie sich kritisch im Spiegel. Sie war ihr Leben lang rundlich gewesen und hatte sich damit abgefunden, daß ihr die modische Wespentaille versagt bleiben würde. Ihre Wangen waren rund und voll, das rosige Gesicht von einer puppenhaften Niedlichkeit. Aber der Schein trog, sie war eine durchaus energische kleine Person, die zuzupacken verstand, und das Personal durch ihre Freimütigkeit für sich eingenommen hatte. Die Patientinnen liebten sie, und Samantha hoffte, daß sie auch nach Abschluß ihrer Assistentenzeit am Krankenhaus bleiben würde.
Willella selbst war zwiegespalten. Einerseits war sie froh und glücklich in ihrem Beruf als Ärztin, arbeitete mit Freude und Enthusiasmus am Kran {318} kenhaus und war dankbar, unter einer Frau wie Samantha Hargrave lernen zu können; andererseits aber sehnte sie sich nach einem Mann und Kindern. In diesem Krankenhaus, wo sie von früh bis spät ausschließlich mit Frauen zu tun hatte, kam sie sich machmal vor wie eine Nonne. Männer gab es in ihrem Leben nicht; nicht einmal die Hoffnung, einen netten Mann kennenzulernen. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, nach den Maßstäben ihrer Zeit bereits eine alte Jungfer, und hatte Angst, daß sie ihre Sehnsüchte und Träume bald endgültig würde begraben müssen.
Sie dachte an Samantha Hargrave, die sie bewunderte, aber auch beneidete; ihr schien es an Verehrern nicht zu mangeln, ob das nun der charmante Mr. Weatherby war oder der aristokratische Mr. Dunwich. Wirklich beneidenswert! Willella war überzeugt, daß Samantha Hargrave früher oder später heiraten würde. Aber wie stand es um ihre eigenen Chancen? Klein, mollig und Ärztin dazu – in ganz San Francisco gab es keinen Mann, der auch nur einen Gedanken an sie verschwenden würde.
Aber noch würde sie die Hoffnung nicht aufgeben. Josephine Beauharnais war zweiunddreißig gewesen, als sie Bonaparte kennengelernt hatte. Willella kniff sich in die Wangen, um ihnen Röte zu
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