Sturmjahre
geben, inspizierte ihre Tracht, um sich zu vergewissern, daß alles vorschriftsmäßig war, und marschierte hinaus.
Ja, was würden wir wohl ohne unser Damenkomitee anfangen? dachte Samantha wieder, als sie in den großen Krankensaal trat. Die kleine Hilfstruppe, modisch gekleidete junge Frauen in hochgeschlossenen weißen Blusen und geraden dunklen Röcken, waren gerade im Aufbruch. Sie waren alle Freundinnen von Hilary, tatkräftig und voller Energie, ganz anders als Janelle MacPherson und ihre Damen damals im St. Brigid’s. Das waren keine gelangweilten Gesellschaftsdämchen, die, wenn sie gerade nichts Besseres zu tun hatten, einmal in der Woche im Krankenhaus erschienen, um Bibeln und Blumen zu verteilen; diese Frauen waren, auch wenn sie in eleganten Equipagen vorgefahren wurden, zuverlässige Helferinnen. Sie taten weit mehr, als Blumen und Kuchen zu verteilen. Neben ihrer Hauptaufgabe, die darin bestand, Mittel für die Weiterfinanzierung des Krankenhauses aufzutreiben, kümmerten sie sich um Säuglinge, die vor dem Krankenhaus ausgesetzt wurden oder deren Mütter im Kindbett gestorben waren, und sorgten dafür, daß sie adoptiert wurden. Sie besuchten die Armen der Stadt und meldeten alle Pflegefälle im Krankenhaus, so daß die Kranken von dort aus ambulant versorgt werden konnten. Sie lasen den Kranken vor, trösteten die Geängstigten, sprachen den Verzweifelten Mut zu, hielten die Hände der Sterbenden. Das {319} Frauen- und Kinderkrankenhaus San Francisco erwarb sich sehr schnell den Ruf, weit mehr zu sein als nur ein Krankenhaus – eine Zuflucht, wo Frauen in Not Anteilnahme und Trost fanden, wo Frauen Frauen halfen. Daß das möglich war, war zu einem großen Teil Hilarys Damenkomitee zu verdanken.
Nun, dachte Samantha, während sie an einem Bett stehen blieb, um den Verband einer Patientin zu prüfen, wir haben eine schwere Zeit vor uns, und das Komitee wird hart arbeiten müssen, damit wir durchhalten können. Die Mittel waren so knapp geworden, daß Samantha Kohle und Holz bereits auf Kredit einkaufte. Am Ende des Monats würde man auch den Fleischer vertrösten müssen. Hilary hatte wie immer einige Ideen, um dem Krankenhaus aus der Misere herauszuhelfen, aber da ihre Entbindung unmittelbar bevorstand, konnte sie sich derzeit an der Arbeit des Komitees nicht aktiv beteiligen. Doch sobald sie wieder auf den Beinen sei, hatte sie versprochen, würde sie sich mit den Damen zusammensetzen und einen richtigen Feldzug zur Sicherstellung weiterer Mittel ausarbeiten.
Samantha vermißte Hilary. Wegen ihres Zustandes fielen die wöchentlichen gemeinsamen Mittagessen schon seit einiger Zeit aus, und es war natürlich nicht daran zu denken, zum Bogenschießen zu gehen. Selbst der kleine Schwatz bei einer Tasse Tee, den sie einzulegen pflegten, wenn Hilary auf einen Sprung ins Krankenhaus kam, war nicht mehr möglich. Samantha machte sich zwar immer wieder einmal eine Stunde frei, um Hilary auf Nob Hill zu besuchen, aber da drehten sich ihre Gespräche nur um das Krankenhaus und um Geldbeschaffung.
Mit der Patientin im nächsten Bett, einer lebhaften jungen Frau, tauschte Samantha lächelnd ein paar Worte. Sie war zwei Wochen zuvor mit einem Blinddarmdurchbruch eingeliefert worden. Samantha und Willella Canby hatten sofort operiert, und die junge Frau hatte sich inzwischen vollständig erholt. Während sich Samantha die saubere, rosige Narbe ansah, dachte sie an die Zeiten, wo eine solche Operation unmöglich gewesen war und jeder Blinddarmpatient zum Tode verurteilt gewesen war. Riskant war der Eingriff immer noch, aber wenigstens hatte der Patient jetzt eine Chance.
Als sich die Tür des Saals öffnete und eine Schwester mit einem Stapel frischer Laken eintrat, wehte Samantha der verlockende Duft von Gänsebraten in die Nase, und sie merkte plötzlich, daß sie sehr hungrig war. Sie hatte vor lauter Arbeit seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Nun, der Abend würde sie dafür entschädigen. Warren Dunwich hatte sie zu Coppa’s eingeladen.
{320} Die wenigen freien Abende, die sie nicht mit Jennifer verbrachte, teilte sie zwischen Stanton Weatherby und Warren Dunwich, die sie beide beharrlich umwarben. Hilary hatte zunächst große Hoffnungen gehegt und Samantha immer wieder mehr oder weniger durch die Blume zur Heirat gedrängt, aber nach einer Weile hatte sie ihre Bemühungen aufgegeben. Samantha und Hilary hatten längst gelernt, offen miteinander zu sein und vertrauten einander ohne Scheu
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