Sturmjahre
daß er mit ihr unter einem Dach arbeitete. Dienstag und Samstag waren seine Tage. Mark vertrat die Theorie, daß Krebszellen nichts anderes waren als normale Zellen, die entartet waren. Diese Theorie hatte kaum Anhänger, doch er hielt unerschütterlich an ihr fest und war entschlossen, die Ursache für die Entartung der Zellen herauszufinden.
Samantha sah auf ihre Uhr und runzelte die Stirn. Lilian Rawlins hatte sich bereits eine halbe Stunde verspätet. Sie ging zur Tür und schaute hinaus.
»Constance«, rief sie der gerade vorübereilenden Schwester zu, »haben Sie Mrs. Rawlins gesehen?«
»Ja, Doktor. Sie ist in der Notaufnahme.«
»Was? Ist sie verletzt?«
»Nein, nein. Sie hilft.«
Samantha war verblüfft. Sie wußte von Lilian Rawlins’ starker Abneigung gegen Krankenhäuser, wußte, daß sie nur mit Widerwillen zur Behandlung kam. Was tat sie dann in der Notaufnahme?
Sie lief hinüber in die Abteilung. Es ging zu wie in einem Bienenstock. Dr. Canby und die Schwestern hatten alle Hände voll zu tun. Die Notfälle reichten vom eiternden Zehennagel bis zum gebrochenen Arm.
{379} Lilian Rawlins saß in einer Ecke und plauderte mit einem kleinen Jungen auf einer Trage. Samantha sah, daß sein rechter Arm frisch verbunden war.
»Hallo, Mrs. Rawlins«, sagte sie.
Lilian sah auf. »Oh, guten Tag, Dr. Hargrave. Ich habe dem kleinen Jimmy hier gerade eine Geschichte erzählt.«
Samantha begrüßte lächelnd den Jungen, dessen Gesicht vom Weinen rot und geschwollen war. Er war völlig verschmutzt und so mager wie ein ausgehungerter kleiner Vogel.
»Jimmy hatte einen Unfall, nicht wahr, Jimmy?« sagte Lilian und tätschelte die schmutzige kleine Hand, die unter dem Verband hervorsah. »Aber er wird ganz schnell wieder gesund. Stimmt’s, Jimmy?«
Der Junge nickte mit einem schüchternen Lächeln.
Lilian stand auf. »Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, Dr. Hargrave«, sagte sie, »aber sie trugen den Kleinen gerade herein, als ich kam. Er weinte ganz schrecklich und tat mir so leid. Da habe ich ihn ein bißchen abgelenkt, während Dr. Canby seinen Arm bandagierte.«
»Ja«, bemerkte Willella, die zu ihnen getreten war, »wenn Mrs. Rawlins nicht gewesen wäre, hätte es einen schweren Kampf gegeben. Sie verstehen wirklich, mit Kindern umzugehen, Mrs. Rawlins.«
Zwei Pfleger erschienen und hoben die Trage hoch.
»Oh«, rief Lilian, »wohin wird er denn jetzt gebracht?«
»Auf die Kinderstation«, antwortete Samantha. »Sie können ihn gern begleiten, wenn Sie möchten.«
Lilian wurde blaß. »Auf die Kinderstation …«
»Da muß er ein paar Tage bleiben«, erklärte Willella. »Sie können ihn jederzeit besuchen.«
»Wiedersehen«, rief der kleine Junge und winkte ihnen zu.
Zuerst besuchte sie nur Jimmy, dann den Jungen im Nachbarbett, dann das kleine Mädchen mit der Entzündung, und schließlich kam sie jeden Tag zu den Kindern. Und nie kam sie mit leeren Händen: Sie brachte bunt bemalte Stroboskope mit, Puppen, hölzerne Soldaten, Stofftiere auf Rädern, die man an einer Schnur hinter sich herziehen konnte, und sie brachte Lakritze, Pfefferminzstangen, Bonbons und Schokolade. Die Kinder, die aufstehen konnten, versammelte sie um sich und erzählte ihnen Geschichten; die, welche ans Bett gefesselt waren, besuchte sie einzeln. Am Anfang weinte sie oft, über die schrecklichen Krankheiten und Verletzungen, über die Verlassenheit vieler dieser Kinder, über den Tod. Sie war kaum zu trösten, als Jimmy den Brand bekam und starb. {380} Aber mit der Zeit entdeckte sie in sich eine Quelle der Kraft, die es ihr möglich machte, mit dem Schmerz zu leben und ihn zu verbergen. Dem kleinen Mädchen, das bei einem Brand in der Mietskaserne schreckliche Verbrennungen davongetragen hatte, kämmte sie mit Hingabe das Haar und versicherte ihr, sie sähe wie eine kleine Prinzessin aus. Dem kleinen Jungen, der nach seiner siebenten Operation zur Korrektur seines Klumpfußes nur langsam genas, versprach sie, daß er eines Tages ein schneidiger Kavallerieoffizier werden würde. Sie sprach mit den Kindern und sie hörte ihnen zu, tröstete sie, wenn sie Angst hatten, und brachte sie zum Lachen, und bald warteten die Kinder mit Sehnsucht auf ihre Besuche. Aber als ein niedliches kleines Mädchen sie umarmte und flehentlich fragte, ob sie mit zu ihr nach Hause kommen dürfe, löste sich Lilian so behutsam wie möglich aus der Umarmung und antwortete, das sei nicht möglich.
»Warum nicht?« fragte
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