Sturmjahre
Samantha eines Nachmittags unten im Labor.
Mark war dabei, einen Objektträger vorzubereiten. »Wir haben ein einziges Mal über Adoption gesprochen«, sagte er, »und Lilian war so entschieden dagegen, daß ich das Thema nie wieder angeschnitten habe.«
»Aber sie liebt Kinder doch so sehr, Mark. Sie wäre eine wunderbare Mutter. Jeden Morgen warten die Kinder voller Ungeduld auf ihren Besuch. Du glaubst gar nicht, wie sehr sie durch die Ermutigung, die sie ihnen gibt, zu ihrer Genesung beiträgt.«
Mark studierte aufmerksam den Objektträger, den er mit seiner Probe bestrichen hatte. »Ja, das ist wahr. Die Kinderabteilung ist ihr ganzes Leben. In den ersten Monaten hier fühlte sich Lilian sehr einsam. Ihr fehlte ihre Familie. Sie hatte überhaupt kein Interesse daran, sich mit den Frauen in unserer Nachbarschaft anzufreunden – sie haben alle Kinder, und das war zu schmerzlich für sie. Als dann die Behandlungen bei dir anfingen, war sie so sicher, daß sie zum Erfolg führen würden, daß sie sofort anfing, eines der oberen Zimmer im Haus als Kinderzimmer einzurichten. Das sind im Augenblick ihre einzigen Interessen – die Einrichtung des Kinderzimmers und die Besuche auf der Kinderstation hier im Krankenhaus. Sie ist wie besessen. Das geht so weit, daß –« Er brach ab.
Er hatte sagen wollen, so weit, daß sie vergißt, daß sie auch noch einen Mann hat. Aber das konnte er Samantha nicht sagen. Und er konnte ihr auch nicht sagen, daß für Lilian die nächtliche Umarmung mit Liebe nichts mehr zu tun hatte, nur noch Mittel zu einem Zweck war: endlich schwanger zu werden.
{381} Samantha spürte, was er meinte. Bei ihren Besuchen sprach Lilian beinahe unablässig von den Kindern ihrer Schwestern in St. Louis, elf an der Zahl. Sie ließ sogar Fotografien der Kinder anfertigen und zeigte sie jedem.
»Aber das ist doch nur umso mehr Grund, ein Kind zu adoptieren, Mark.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie will entweder ein eigenes Kind oder gar keines. Vielleicht wäre sie eher zu einer Adoption bereit, wenn sie nicht schon einmal ein Kind zur Welt gebracht hätte. Aber so –«
Samantha setzte sich auf den hohen Hocker vor dem Labortisch. Irgendwie konnte sie Lilian verstehen. Sie brauchte nur an ihr
eigenes Kind zu denken, das auf dem Friedhof lag.
Mark ging zum Becken und wusch sich die Hände. »Ich bin froh, daß du heruntergekommen bist, Samantha«, sagte er, während er sie trocknete. »Ich möchte etwas mit dir besprechen.«
»Ja?«
Er rollte seine Hemdsärmel herunter, knöpfte die Manschetten zu und ging zum Sekretär. »Das hier.« Er nahm eine Broschüre, die dort lag, und hielt sie ihr hin. Es war eine ihrer Streitschriften gegen die Arzneimittelindustrie.
»Was ist damit?«
»Sind die Angaben darin richtig?«
»Sie stammen alle aus den Akten des Krankenhauses.«
Mark hielt die Broschüre auf der offenen Hand, als schätze er ihr Gewicht. »Es muß eine Menge Arbeit gewesen sein, diese Daten zusammenzustellen. Und deine Behauptungen über die Zusammensetzung der Mittel – zum Beispiel, daß Ellisons Elixier zu vierzig Prozent aus Alkohol besteht –, sind die zuverlässig?«
»Ich habe die Untersuchungen selbst durchgeführt.«
Er sah sie einen Moment nachdenklich an, dann sagte er: »Ich habe die Broschüre heute morgen am Empfang mitgenommen. Sie lag unter einem Stapel von Blättern über Hygiene und richtige Ernährung – völlig vergraben, Sam.«
»Ich weiß. Die Schwestern bemühen sich, Ordnung zu halten, aber –«
»Das geht einfach unter«, sagte er. »Und die Informationen sind da draußen verschwendet. So etwas muß publik gemacht werden.«
»Das habe ich versucht, Mark. Ich habe die Broschüren an sämtliche Zeitungen und Zeitschriften geschickt, bei denen ich Interesse vermutete, aber ohne Ergebnis.«
»Das ist kein Wunder. Die Firma Ellison gibt Unsummen für die Wer {382} bung aus. Die Zeitschriften können es sich nicht leisten, dieses Geld zu verlieren.«
»Mark, wenn es mir auch bis jetzt noch nicht gelungen ist, die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen, so tue ich doch wenigstens etwas.«
»Aber ist das genug?«
Sie zögerte. »Nein.«
»Gut.« Er ging zum Schrank und schob die Broschüre in die Tasche seines Jacketts. »Wie sehen deine Termine für den Rest des Tages aus?«
»Nach dem Mittagessen ist Visite, dann habe ich bis zum Abendessen Dienst in der Notaufnahme.«
»Kann dich da jemand vertreten?«
»Ich denke schon. Warum?«
»Weil ich
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