Sturmjahre
»Lesen Sie sie erst einmal durch, Horace«, sagte er und legte sie auf den Schreibtisch. »Dann sagen Sie uns, was Sie davon halten.«
Während Chandler aufmerksam die Broschüre studierte, sah Mark Samantha an und zwinkerte ihr zu.
»Mr. Chandler«, sagte sie, »mir geht es vor allem darum, die Leute auf die Gefahren dieser Arzneimittel aufmerksam zu machen. Auf den Etiketten wird behauptet, die Mittel seien völlig unschädlich. Tatsächlich sind sie das durchaus nicht. Schwangere Frauen nehmen ›Stärkungsmittel‹ ein, die ihre ungeborenen Kinder schädigen, und haben keine Ahnung davon. Krebskranke trinken flaschenweise gefärbtes Wasser, anstatt bei einem Arzt Hilfe zu suchen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Aufklärung, Mr. Chandler. Und da die Hersteller nicht bereit sind, die Leute aufzuklären, müssen wir es tun.«
Chandler legte die Broschüre aus der Hand und sah Samantha forschend an. »Sind Sie sich der Richtigkeit Ihrer Angaben sicher?«
»Absolut.«
»Können Sie noch ein paar mehr Daten beschaffen? Das hier ist etwas mager. Nur drei Hersteller. Es gäbe dem Artikel mehr Gewicht, wenn wir noch andere nennen könnten.«
»Ich hatte nicht die Zeit zu weiteren Untersuchungen«, antwortete Samantha, »aber ich habe schon seit einiger Zeit vor, Sara Fenwicks Wundermixtur zu analysieren.«
Chandler klatschte in die Hände. »Das ist der größte Hersteller überhaupt.«
»Ich mache dir die Analyse, Sam«, sagte Mark. »Ich brauche nur eine Flasche von dem Mittel und einen Bunsenbrenner.«
Chandler rieb sich das schwammige Kinn. »Ihre Broschüre ist gut, Dr. Hargrave, aber sie liest sich wie ein wissenschaftlicher Bericht. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich versuche, der Sache ein bißchen journalistischen Pfiff zu geben?«
»Aber gar nicht.« Samantha war gespannt und aufgeregt.
»Dr. Hargrave, ich werde dafür sorgen, daß der Leser nach der Lektüre meines Artikels überzeugt ist, es trifft ihn schon bei der nächsten Pille oder beim nächsten Wässerchen. Öffentliche Empörung – das ist Ihre Waffe. Man muß, brutal gesagt, im Dreck wühlen, um eine Gesetzesänderung herbeizuführen.«
»Und um die Auflage zu vergrößern«, bemerkte Mark grinsend.
{385} Chandler stand auf. »Tut mir wirklich leid, aber ich habe gleich eine Verabredung. Mark, grüßen Sie Lilian von mir. Dr. Hargrave, es hat mich sehr gefreut. Ich schlage vor, wir treffen uns nächste Woche wieder.«
Samantha hätte am liebsten Freudensprünge vollführt, als sie aus dem kühlen Gebäude auf die warme Straße hinaustraten. Mark drückte seinen Homburg auf den Kopf, blinzelte kurz ins blendende Sonnenlicht und sah dann lachend Samantha an. »Dr. Hargrave«, sagte er, »ich glaube, wir beide werden die Welt verändern.«
8
Samantha starrte auf die Worte, die sie soeben geschrieben hatte, aber ohne sie zu lesen. Den Kopf in die Hand gestützt, hielt sie die Feder über dem Papier und verlor sich in ihre Gedanken. Dies war der zweite Artikel für
Woman’s Companion.
Der erste, der im vergangenen Monat unter dem Titel ›Möchten Sie, daß Ihnen so etwas passiert?‹ erschienen war, hatte so großes öffentliches Interesse erregt, daß Horace Chandler gleich einen zweiten anschließen wollte. Dieser neue Bericht würde die Laboranalysen zehn besonders häufig gekaufter Arzneimittel enthalten.
Samantha legte die Feder aus der Hand. Es war sehr spät geworden. Draußen in den Fluren und in den Krankensälen war es still. Müde stand sie auf und ging zum Fenster. Sie zog die schweren Samtvorhänge zur Seite und schaute in die Oktobernacht hinaus. Die Straße war fast menschenleer. Die wenigen Passanten eilten in einer Hast, als fühlten sie sich verfolgt oder fürchteten die nächtlichen Schatten.
Herbst, dachte Samantha melancholisch. Die Jahreszeit, in der alles stirbt. Sie merkte plötzlich, daß sie den Tränen nahe war. O Gott, dachte sie verzweifelt, ich halte das so nicht länger aus. Ich halte es nicht mehr aus. Sie drückte den Kopf an die Fensterscheibe. Ich habe kein Recht. Aber ich brauche ihn. Ich komme um, wenn das so weitergeht …
Sie hatte geglaubt, sie würde es schaffen, Mark nur als alten Freund zu sehen und an seiner Seite zu arbeiten. Aber es fiel ihr von Tag zu Tag schwerer. Jedesmal, wenn er in ihr Büro kam, bei jedem Besuch bei Horace Chandler, bei den Abendessen im Haus der Gants, wenn Mark auf ihrer einen Seite saß und Lilian auf der anderen –
Samantha fülte sich plötzlich wie
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