Sturmjahre
die umliegenden Organe; dann gingen sie daran, die Wunde zu schließen. »Schwester, bitte bringen Sie die Proben zu Dr. Johns hinunter. Und wenn Dr. Rawlins da sein sollte, sagen Sie ihm doch bitte, daß ich in einer halben Stunde fertig bin.«
Während Samantha mit der Nadel arbeitete, spürte sie eine leichte Erregung. Nach der Visite wollte sie mit Mark zu Horace Chandler fahren, um die Aufmachung für den Bericht über Sara Fenwick zu planen.
Es gab jetzt keinen Zweifel mehr für sie, daß das, was sie vorhatten – eine Untersuchung des führenden Arzneimittelherstellers in den USA – eine Sensation werden würde. Als Horace Chandler unter dem Titel ›Arzneimittelhersteller spottet der Pressefreiheit‹ den Werbevertrag der Firma Ayer abgedruckt hatte, war der Absatz von Ayer-Produkten schlagartig gefallen, eine Flut von Zuschriften war bei
Woman’s Companion
eingegangen, und die Anwälte der Firma Ayer hatten Horace Chandler einen Besuch abgestattet.
Cy Jeffries hatte dafür gesorgt, daß der nächste Bericht wie eine Bombe einschlagen würde. Er hatte hervorragende Arbeit geleistet. Nachdem er es geschafft hatte, in der Versandabteilung der Firma Sara Fenwick angestellt zu werden, hatte er weit mehr sorgsam gehütete Geheimnisse aufgedeckt, als sie sich erhofft hatten. Er hatte herausbekommen, daß viele der Dankbriefe gegen Entgelt geschrieben waren – fünfundzwanzig Dollar für jeden, der bereit war, schriftlich die Heilung durch Sara Fenwicks Wundermixtur zu bestätigen. Er hatte festgestellt, daß in der Abfüllung Zustände herrschten, die den Grundsätzen der Hygiene bei weitem nicht genügten; und er hatte, als es ihm gelang, in die Korrespondenzabteilung vorzudringen, gesehen, daß die Zuschriften Hilfesuchender nicht ›ausschließlich von Frauen‹ beantwortet wurden, wie in den Anzeigen be {396} hauptet wurde, sondern daß da auch eine ganze Reihe junger Männer an der Arbeit waren.
Aber das Prunkstück war die Fotografie. Horace Chandler wollte sie auf der ersten Seite der Septemberausgabe bringen. Sie zeigte Sara Fenwicks Grabstein. Aus den deutlich erkennbaren Daten, die darauf eingraviert waren, ging hervor, daß Sara Fenwick bereits sechs Jahre vor Gründung der Firma gestorben war. Unter das Foto wollte Horace eine Anzeige der Firma setzen, die den Wortlaut hatte, ›Mrs. Fenwick kann in ihrer guten Stube mehr für die kranken und leidenden Frauen dieses Landes tun als jeder Arzt‹.
Auch Mark und Samantha hatten ihre Beiträge für die Kampagne geliefert. Aufgrund seiner eingehenden Analyse des Mittels hatte Mark festgestellt, daß es doch nicht so harmlos war, wie sie geglaubt hatten: eine der enthaltenen Substanzen war ein Abortivum. Samantha ihrerseits hatte mehrere Briefe an die Firma geschrieben, wobei sie in der Unterschrift ihren Doktortitel weggelassen hatte. In ihrem ersten Schreiben klagte sie über ein schleichendes Unwohlsein. Sara Fenwick riet ihr, täglich einen Eßlöffel der Mixtur einzunehmen. Daraufhin schrieb Samantha einen zweiten Brief, in dem sie eine Verstärkung der Symptome schilderte. Sara Fenwick empfahl, die Dosis zu verdoppeln. Schließlich schrieb Samantha, ihr Arzt hätte zu einer Operation geraten, und die Firma antwortete, daß täglich eine halbe Flasche Wundermixtur sie vor dem Skalpell bewahren würde.
Sie hatten soviel Material, daß Horace beschloß, fast die ganze Septemberausgabe von
Woman’s Companion
Sara Fenwick zu widmen. Daneben würde er kleinere Studien über andere Arzneimittelhersteller bringen. Das Heft sollte auf der Titelseite in leuchtend roten Buchstaben quer gedruckt die Warnung tragen:
Caveat Emptor.
Als Samantha gerade dabei war, die Frischoperierte zu verbinden, kam Schwester Constance in den Operationsraum. »Dr. Hargrave, Mrs. Rawlins läßt fragen, ob Sie einen Moment für sie Zeit hätten. Sie wartet in Ihrem Büro.«
»Selbstverständlich, Constance. Würden Sie bitte bei Mrs. Sargent bleiben, bis sie wach wird.«
»Hallo, Lilian. Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
»Danke, nein, Samantha.«
Neugierig, was der Anlaß ihres unangemeldeten Besuchs war, setzte sich Samantha an ihren Schreibtisch. Lilian war schon seit einiger Zeit nicht mehr in Behandlung; Samantha konnte nichts mehr für sie tun.
{397} »Was führt Sie zu mir, Lilian?«
»Zunächst einmal wollte ich Ihnen danken, Samantha, für alles, was Sie für mich getan haben. Für Ihren Rat, Ihre Teilnahme und für die Behandlungen. Das war
Weitere Kostenlose Bücher