Sturmjahre
weit mehr, als andere Ärzte für mich getan haben.«
»Geben Sie die Hoffnung nicht auf, Lilian.«
»Doch, Samantha. Ich habe sie aufgegeben. Ich habe alle Hoffnung aufgegeben.«
Samantha sah sie ungläubig an. Sie hatte sehr ruhig gesprochen, und ihre Haltung war entspannt. Das Gebaren einer Frau, die sich mit dem Unabänderlichen abgefunden hat.
»Bitte geben Sie noch nicht auf«, sagte Samantha.
Lilian hob eine Hand. »Doch, Samantha, ich will nicht mehr. Als ich damals in St. Louis aufgegeben hatte, war ich bereit, mich mit meinem Schicksal abzufinden. Aber dann kamen wir hierher, und Sie gaben mir neue Hoffnung. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Aber ich kann nicht ein drittes Mal wieder anfangen zu hoffen, Doktor. Eine dritte Enttäuschung würde ich nicht ertragen.«
»Aber es besteht doch gar kein Grund, jetzt die Hoffnung aufzugeben.«
»Ich werde dieses Jahr vierzig, Samantha. Ich habe spät geheiratet. Ich mache mir jetzt nichts mehr vor. Ich habe begriffen, daß es nie sein sollte.«
»Sie dürfen sich nicht als eine Versagerin ansehen, weil Sie kein Kind mehr bekommen konnten«, sagte Samantha eindringlich. »Den Kindern auf der Kinderstation sind Sie eine Mutter, Lilian.«
»Ich habe jetzt nicht von der Mutterschaft gesprochen, Samantha. Ich rede davon, daß unsere Ehe, die Ehe zwischen Mark und mir, ein Fehlschlag ist.«
Samantha konnte sie nur wortlos anstarren.
»Wir haben uns geliebt, als wir heirateten«, fuhr Lilian im gleichen ruhigen Ton fort, »und wir lieben uns immer noch, aber in diesen eineinhalb Jahren in San Francisco hatte ich viel Anlaß und Gelegenheit zum Nachdenken. Ich bin mir jetzt klar darüber, daß ich Mark aus den falschen Gründen geheiratet habe. Ich war über dreißig und hatte Angst davor, eine alte Jungfer zu werden. Und ich wollte unbedingt ein Kind. Unbedingt!«
Sie holte einmal tief Atem. Die folgenden Worte kosteten sie sichtliche Anstrengung. »Mark und ich hatten im Grunde nichts gemeinsam. Oh, sicher, Theater, Literatur und solche Dinge. Aber nichts wirklich Wesentliches, Grundlegendes. Ich war in New York zu Besuch bei Verwandten. {398} Ich lernte Mark auf einem Picknick kennen. Ich glaube, er fühlte sich aus den gleichen Gründen zu mir hingezogen wie ich mich zu ihm: Er wünschte sich eine Familie. Und wenn ich Kinder bekommen hätte, dann hätten wir darin vielleicht eine Grundlage für unsere Ehe gefunden. Aber nach dem Tod unseres Kindes –« sie starrte auf ihre Hände hinunter – »entfernten wir uns immer mehr voneinander. Mark wurde rastlos. Die Privatpraxis füllte ihn nicht aus. Als die Universität ihm einen Lehrstuhl anbot, sah er das als gute Gelegenheit. Ich wäre viel lieber bei meiner Familie geblieben, aber ich wollte das tun, was für Mark und seine berufliche Karriere am besten war.«
Lilian hob den Kopf und sah Samantha offen an.
»Mark hat hier gefunden, was er suchte. Er ist glücklich, ausgefüllt von seiner Arbeit. Und ich bin froh darüber.«
Samantha wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Ich möchte nach Hause, Samantha.« Zum erstenmal drohte Lilian ihre Gelassenheit zu verlieren. Ihre Lippen zitterten. »Ich habe große Sehnsucht nach meiner Familie, nach meinen Nichten und Neffen. Ich fühle mich so unendlich leer, wie ausgehungert. Ich weiß, daß ich die Kinder hier im Krankenhaus habe, aber das sind immer nur flüchtige Beziehungen. Ich fürchte mich, sie zu lieben, weil ich den Schmerz fürchte, wenn sie wieder gehen. Ich möchte Kinder, die immer da sind, Samantha, die ein Teil von meinem Fleisch und Blut sind. Meine Schwestern –« Ihre Stimme brach.
Samantha stand auf und läutete. Dann setzte sie sich zu Lilian.
»Meine Schwestern«, fuhr diese fort, »möchten, daß ich nach Hause komme, Samantha.« Lilians braune Augen wurden feucht. »Dahin gehöre ich.«
Jetzt endlich kamen die Tränen. Samantha reichte ihr schweigend ein Taschentuch.
Lilian schniefte ein paarmal und schneuzte sich. »Ich liebe Mark, Samantha«, sagte sie dann. »Um nichts in der Welt würde ich ihm wehtun wollen. Aber ich bin nicht die richtige Frau für ihn. Ich kann ihm nicht das geben, was er braucht – Anteilnahme und Interesse an seiner Arbeit. Ich will ganz offen sein, ich finde das, was er in seinem Labor tut, eher abstoßend. Ich bewundere ihn für seine Energie und sein Zielbewußtsein, aber ich möchte am liebsten nichts von seiner Arbeit hören. Und ich spüre, daß er mein ewiges Gerede von meinen Nichten und Neffen
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