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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Schoß, erinnerte er sich jenes längst vergangenen schrecklichen Tages.
    Immer noch in tiefer Trauer um Rachel und seine kleine Tochter Ruth, war er eines Morgens im Frühjahr ausgegangen, um Bücher und Pflanzen zu besorgen. Er war durch den Hyde Park gewandert und hatte sich, soweit ihm das in seinem Schmerz möglich war, am hoffnungsfroh grünen Erwachen der Natur gefreut. Auf einer Bank saß eine junge Frau in Reifrock und Schute und las in einem Buch: nicht weit von ihr stand ein kleines Mädchen von höchstens acht Jahren am Wasserrand und schlug mit einem Stock ins Wasser.
    Er konnte sich jetzt so wenig wie damals erklären, was in diesem Augenblick in ihm vorgegangen war. Der dünne Faden der Vernunft war beim Anblick des Kindes, dessen Gesicht ihm vertraut schien, gerissen. »Ruth!« rief Isaiah Hawksbill laut und stürzte, jünger und beweglicher damals, auf das kleine Mädchen zu. Er riß es in seine Arme und wollte mit ihm davonlaufen.
    Was dann geschehen war, daran konnte er sich auch heute nicht erinnern. Er wußte nur, daß plötzlich empörte und erregte Stimmen um ihn laut wurden, daß dunkle, verschwommene Gestalten ihn umringten. Ein Polizist drängte sich durch die Menge, während die Gouvernante vor dem weinenden kleinen Mädchen niederkniete und es schützend an sich drückte. Voller Entsetzen war Isaiah Hawksbill klargeworden, was er getan hatte.
    Später, auf der Polizeidienststelle, als Hawksbill sich wieder etwas gefaßt hatte, verteidigte er sich mit einer Lüge: »Das Kind wäre beinahe ins Wasser gefallen. Ich habe es zurückgerissen. Mehr war es nicht.«
    Die erschrockene Gouvernante, die im Beisein ihrer Arbeitgeber vernommen wurde, scheute sich zuzugeben, daß sie gelesen und daher von den Vorgängen nichts gesehen hatte; sie bestätigte Hawksbills Aussage im eigenen Interesse. Man sah von einer Anzeige gegen Hawksbill ab, und die Sache wäre vergessen gewesen, wäre nicht zufällig im kritischen Moment eine Bewohnerin vom St. Agnes Crescent – eine Gemüsehändlerin, die auf dem Weg zu den Lagerhäusern in Billingsgate gewesen war – im {65} Park zugegen gewesen. Die hatte den Vorfall ganz anders gesehen. Das kleine Mädchen war überhaupt nicht so nahe am Wasser gewesen, daß es hätte hineinfallen können, als Hawksbill plötzlich wie ein Wilder dahergekommen war, die Kleine gepackt hatte und zweifellos mit ihr durchgebrannt wäre, hätte nicht ein Spaziergänger ihn aufgehalten.
    Die Frau, die ihre eigenen Gründe hatte, den Kontakt mit den Hütern des Gesetzes zu scheuen, berichtete zwar der Polizei nicht, was sie gesehen hatte, doch sie hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihre Geschichte im ganzen Viertel herumzuerzählen, so daß die Leute, als Isaiah Hawksbill schließlich niedergeschlagen nach Hause zurückkehrte, ihr Urteil über ihn bereits gefällt hatten.
    Wie konnte er unter diesen Umständen auch nur daran denken, Samuel Hargrave um die Hand seiner Tochter zu bitten?
     
    Fünf Tage blieb sie weg. Isaiah Hawksbill litt Qualen. Er würde sie auf Händen tragen; er würde sie vor Leid und Unrecht schützen und sie vor der freudlosen Zukunft bewahren, die sie erwartete, wenn sie im Haus ihres Vaters blieb, wo sie im Dienst an einem Mann, der ihre Liebe gar nicht zu schätzen wußte, langsam zur alten Jungfer verkümmern würde, die am Ende, wenn ihr Vater schließlich starb, kein Mann mehr haben wollte. Vor diesem Los wollte Isaiah Hawksbill sie retten; er wollte ihr seinen Namen und ein Zuhause geben, das sie nach ihrem Geschmack einrichten sollte. Er würde ihr ein Piano kaufen und sie das Klavierspiel lehren. Abends würden sie am Feuer Karten spielen und das Gespräch pflegen. Er würde sie weiterhin unterrichten und ihr seine ganze Liebe geben.
    Als Samantha wiederkam, wirkte sie sehr gedämpft. »Sie hatten recht, Mr. Hawksbill«, sagte sie, den Blick zu Boden gerichtet. »Ich bin nicht ins Krankenhaus gekommen. Mrs. Scoggins hat gar nichts gesagt. Sie hat nur ein Laken zerrissen und hat es mir umgebunden. Jetzt ist es vorbei. Aber sie hat gesagt, in einem Monat kommt es wieder.«
    Der alte Hawksbill sah sie nachdenklich an. »Samantha, empfängt dein Vater manchmal Besuch?«
    »O nein, Sir. Er arbeitet ja immer an seinen Schriften.«
    »Ich würde aber gern einmal mit ihm sprechen.« Er zog sein Taschentuch heraus und tupfte sich die Oberlippe.
    »Hab’ ich was angestellt?«
    »Aber nein, Kind, nein. Es ist eine geschäftliche Angelegenheit, weißt du. Ich habe

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