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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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seit fast zwei Jahren nicht mehr mit deinem Vater gesprochen. Ich hätte nur gern gewußt – ach, laß mal, es ist schon gut«, sagte er {66} leise. »Ich werde schon Gelegenheit finden, mit ihm zu sprechen. Also, was wollen wir heute beim Tee lesen?« Er griff nach einem geologischen Lehrbuch.
    »Mr. Hawksbill?«
    »Ja, Kind.«
    »Können Sie mir nicht erklären, warum ich jetzt jeden Monat bluten muß?«
    Er erstarrte. »Vielleicht wenn du älter bist.«
    »Aber warum denn? Da passiert doch was mit meinem Körper. Hab’ ich vielleicht kein Recht darauf zu wissen, was es ist?«
    Er seufzte. Dieses Dilemma hatte er sich selbst zuzuschreiben. Er hatte sie in ihrem Wissensdurst stets ermutigt und ihr nie eine Erklärung verweigert.
    »Na schön, dann setz dich erstmal, Kind, und ich werde versuchen …«
    Am Ende seiner Erklärung angekommen, war Hawksbill unzufrieden und frustiert. Im Jahr 1872 war es der Wissenschaft noch nicht gelungen, das Geheimnis des weiblichen Zyklus zu enträtseln. Es gab viele Theorien, die fast alle auf Aberglauben gründeten. Die unter den Ärzten gängigste besagte, daß die Menstruation, Entschädigung dafür, daß es bei der Frau keinen Samenerguß gab, von den magischen Kräften des Mondes ausgelöst werde. Man vermutete, daß die Menstruation in direktem Zusammenhang mit der Gebärfähigkeit stünde, da ihr Einsetzen ein Zeichen der Furchtbarkeit war und ihr Ausbleiben den Beginn einer Schwangerschaft markierte; die genauen Zusammenhänge jedoch hatte bisher niemand durchschaut.
    »Warum haben Männer so was nicht?« fragte Samantha mit zweifelnd gerunzelter Stirn.
    »Weil sie – äh – etwas anderes haben, etwas Ähnliches, das sich bei der Zeugung eines Kindes abspielt.«
    »Ach das!«
    Er merkte, wie er rot wurde. »Darüber brauchst du dir noch lange keine Gedanken zu machen, Kind«, sagte er und fügte im stillen hinzu, wahrscheinlich niemals.
    Da durchzuckte es ihn plötzlich wie ein Messerstich. Was, um alles in der Welt, hatte er sich nur gedacht? Wie hatte er auch nur einen Moment lang wahnsinnig genug sein können zu glauben, er könne dieses Kind zu seiner Frau machen? Gewiß, er konnte Samantha beschützen, er konnte für sie sorgen und sie lieben, aber das kostbarste Geschenk, das ein Mann seiner Frau machen konnte, das konnte er ihr nicht geben. Er war zu alt, um noch Kinder zu zeugen. Welches Recht hatte er, ihr das Erlebnis der {67} Mutterschaft zu verwehren? Woher wollte er wissen, daß sie niemals heiraten würde? Hawksbill, du alter Narr!
    »Ist Ihnen nicht gut, Mr. Hawksbill?«
    Er sah ihr in die klaren grauen Augen und dachte: Wie konnte ich nur so egoistisch sein, mir einzureden, es ginge mir einzig um ihr Wohl? Wie konnte ich mir einbilden, ich besäße das Recht, sie zu meinem Eigentum zu machen und einzusperren wie eine Porzellanpuppe, die kein anderer anfassen darf?
    Entsetzt über sich selbst, senkte er den Kopf. Samantha berührte mit einer Hand sachte seinen Arm. »Es geht Ihnen heut’ nicht gut, stimmt’s? Ich mach Ihnen jetzt erstmal einen starken Weißdorntee.«
    Hawksbill rührte sich nicht, als sie aus dem Zimmer ging. Er würde sie bis ans Ende seiner Tage lieben, das wußte er, aber um ihretwillen würde er niemals darüber sprechen.

11
    Niemand, nicht einmal Matthew selbst, merkte, daß er am Rand des Zusammenbruchs stand.
    Matthew Christopher Hargrave, achtzehn Jahre alt, arbeitete seit fast vier Jahren als Schreiber in einem Kontor, und ein Tag war wie der andere. Er arbeitete sechseinhalb Tage jede Woche – frei war nur der Sonntagmorgen für den Kirchgang – und bekam nicht einen Tag Urlaub im Jahr. Jeden Morgen marschierte er in aller Frühe zum Fluß, um mit dem Dampfer die Themse hinunter zur Tower-Brücke zu fahren und von dort aus zu Fuß zu der Wagenbauerei in Bermondsey zu gehen. Nachdem er Hut und Rock in einer Ecke des muffigen Kontors aufgehängt hatte, fegte er zusammen mit den anderen Schreibern die Böden, staubte die Möbel ab, füllte die Petroleumlampen und spitzte die Federkiele, die er für seine Schreibarbeit brauchte. Das Kontor war dreizehn Stunden pro Tag geöffnet, mittags und abends hatten die Angestellten je eine halbe Stunde Essenspause. Junge Männer, die verlobt waren, bekamen einen freien Abend pro Woche. Das Rauchen von spanischen Zigarren, der Genuß von Alkohol, der Besuch von Billardsalons waren Grund zur fristlosen Entlassung. Die Angestellten wurden zum Bibelstudium angehalten, und jeder, der

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