Sturmjahre
seinen Sohn zur Seite und stürzte sich ins Feuer. Während erschrockene Menschen ihn packten und aus den Flammen zerrten, sah er, wie das geliebte Buch in Flammen aufging.
Gesang und Gelächter verstummten. Einige Männer, die eben noch getanzt hatten, rannten dem rasenden Matthew nach, der wie im Amoklauf die Straße hinunterjagte. Zu viert gelang es ihnen schließlich, ihn zu überwältigen. Als er zu Boden stürzte, blieb er mit zuckendem Körper und schaumweißem Mund auf dem Pflaster liegen.
Ohne seiner schweren Verbrennungen an Gesicht und Händen zu achten, ohne die ungeheuren Schmerzen wahrzunehmen, lief Samuel Hargrave taumelnd zu seinem Sohn. In die Stille hinein, in der nur das Knistern des Feuers zu hören war, sagte er mit blutenden, von Blasen aufgeschwollenen Lippen: »Du bist auf immer und ewig zur Hölle verdammt, Matthew Christopher, und von diesem Tag an nicht mehr mein Sohn.« Dann stürzte er bewußtlos zu Boden.
{70} Man trug ihn ins Haus. Der Arzt, den man geholt hatte, erklärte, er würde die Nacht nicht überleben. Samantha blieb Tag und Nacht an seiner Seite und pflegte ihn. James, der inzwischen seinen Dienst im North London Hospital angefangen hatte, löste sie ab, so oft er konnte, und linderte die Schmerzen des Schwerkranken mit häufigen Verabreichungen von Morphium.
Erst im Frühjahr konnte Samuel, immer noch sehr schwach und hilfebedürftig, das erste Mal aufstehen. Doch er war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, nur noch ein Schatten seiner selbst. Gott schien er vergessen zu haben. Er schrieb keine Traktate mehr, hielt nie wieder eine Predigt. Tag für Tag saß er von früh bis spät in seinem Zimmer und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Häufig nahm er nicht einmal von Samanthas Kommen oder Gehen Notiz. Um ihm weiteren Schmerz zu ersparen, sagte sie ihm nichts von James.
Nach kurzer Dienstzeit im North London Hospital war James dort entlassen worden und hatte eine Praktikantenstelle im Guy’s Krankenhaus gefunden. Aber auch dort hatte man ihn nach sechs schwierigen Monaten nicht mehr haben wollen, und so war er nun im St. Bartholomew’s Krankenhaus gelandet. Weit besorgniserregender jedoch als diese berufliche Unbeständigkeit war das neue Leben, das er führte: Er trank und spielte und brachte seine Nächte in der Gesellschaft leichter Mädchen zu.
Samantha fühlte sich einsam und alleingelassen. Ihr Vater und ihre Brüder waren ihr verloren. Freddy, fürchtete sie, würde sie nie wiedersehen. Der einzige Mensch, den sie noch hatte, war Isaiah Hawksbill.
12
An einem Morgen im Herbst, als schon Reif auf den Dächern lag, fand Samantha das Haus Isaiah Hawksbills zu ihrer Verwunderung kalt und dunkel vor. In den viereinhalb Jahren, die sie nun für ihn arbeitete, hatte er sie morgens stets erwartet. Zögernd trat sie in die Küche und hörte aus dem oberen Stockwerk gedämpftes Stöhnen und einen leisen Ruf. Erschrocken lief sie hinauf.
Isaiah Hawksbill lag seitlich zusammengekrümmt in seinem Bett und keuchte leise. »Hol einen Arzt, Kind«, sagte er mühsam. »Ich brauche einen Arzt.«
Voller Angst um ihren alten Freund rannte Samantha zu Dr. Pringle, dessen Praxis nicht weit entfernt war. In Morgenrock und Pantoffeln {71} hörte sich der Arzt ihren atemlosen Bericht an und sagte, er würde nach dem Frühstück vorbeikommen.
Als er zwei Stunden später eintraf, hatte sich der Zustand des alten Hawksbill beängstigend verschlechtert. Keuchend und stockend berichtete er dem Arzt, er sei in der Nacht mit starken Schmerzen auf der rechten Bauchseite erwacht und nicht fähig gewesen aufzustehen. Jetzt hatte er offensichtlich hohes Fieber; seine Wange glühte und seine Augen glänzten wie grünes Glas.
Der Arzt zog die Bettdecke herunter und betastete vorsichtig den Unterleib des alten Mannes. Dann sagte er kopfschüttelnd: »Sie haben eine Entzündung am kleinen Darmfortsatz, Sir. Ich werde tun, was ich kann.« Samantha stand am Fußende des Bettes und sah mit wachsender Beklemmung zu, wie der Arzt ein Glas mit Blutegeln aus seinem Köfferchen nahm, Isaiah Hawksbills Nachthemd hochzog und die schleimigen schwarzen Tiere auf seine weiße Haut fallen ließ. Während sie sich vollsogen, bis sie von selber herabfielen, mischte der Arzt einen mit Strychnin versetzten Trank und flößte ihn dem alten Mann ein. Beinahe unverzüglich übergab sich der Alte; Samantha hielt eine Schüssel neben seinen Kopf, um das Erbrochene aufzufangen. Diese Behandlung wurde den ganzen Tag
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