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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Gegenwart, ihr leises tröstendes Sprechen beruhigend auf ihn. Sie bestand darauf, die von Eiter durchtränkten Verbände jeden Tag zu wechseln, obwohl der alte Hawksbill das für sinnlos hielt, und legte bei jedem Verbandwechsel frische Salbe und neuen Brotschimmel auf. Sie kümmerte sich mit so selbstverständlicher Fürsorge und soviel behutsamer Geschicklichkeit um ihn, daß Hawksbill den Eindruck hatte, die kleine Elfjährige wüßte genau, was sie zu tun hatte.
    Sie blieb jetzt immer bis in die Nacht hinein. Ihr Vater merkte es gar nicht. Hawksbill verstand die Gleichgültigkeit dieses Vaters nicht. Hätte er eine so schöne und intelligente Tochter gehabt, er hätte sie soviel wie möglich um sich haben mögen. Er war froh und dankbar dafür, Samantha jeden Tag so lang in seinem Haus haben zu dürfen, auch wenn sie einzig wegen des kranken Jungen blieb, der fieberlallend, mit dick angeschwollenem Bein in seiner Wohnstube lag. Bald, das wußte der Alte nur zu gut, würde es vorüber sein.
     
    Samantha trug die Schmalzbrote, die sie zum Abendessen gestrichen hatte, ins Arbeitszimmer. In den letzten Monaten war der alte Hawksbill großzügiger geworden und pflegte Samantha Geld genug für anständiges Essen zu geben. Sie aßen jetzt regelmäßig Kohl und Kartoffeln, Bratwür {59} ste, Marmelade oder Käse auf dem Brot und zum Nachtisch ab und zu eine süße Pastete.
    »Er ist heut’ so ruhig, Mr. Hawksbill. Den ganzen Tag schon. Das macht mir angst.«
    Hawksbill, der an seinem Arbeitstisch saß und getrocknete Schwarzwurzblätter von ihren Stengeln trennte, murmelte: »Vielleicht wäre es am besten gewesen, ihn ins Krankenhaus bringen zu lassen. Er hätte einen Chirurgen gebraucht.«
    »Nein«, entgegnete sie leise, aber entschieden. »Im Krankenhaus machen sie alles nur schlimmer. Die Leute, die dahin kommen, sterben fast alle.«
    Dem konnte er nicht widersprechen. Im St. Bartholomew’s Hospital, das wußte er, verlangte man bei Einlieferung eines Patienten eine Beerdigungsgebühr, die im Fall der Genesung des Patienten zurückerstattet wurde.
    »Auch wir werden deinen Freund nicht retten können, Samantha«, sagte er, ihr fest in die Augen schauend. »Es ist ausgeschlossen, daß er durchkommt. Seit mehr als einer Woche hat er keinen Bissen gegessen. Von dem bißchen Wasser, das wir ihm eingeflößt haben, kann er nicht zu Kräften kommen. Er ist, seit er hier liegt, nicht einmal eine Sekunde lang zu Bewußtsein gekommen –«
    Hawksbill brach plötzlich ab und sank in sich zusammen. Was half es schon, ihr die Wahrheit einbleuen zu wollen? Sie war so eigensinnig und störrisch, hielt unerschütterlich an der Illusion fest, daß –
    Lautes Poltern ließ ihn zusammenfahren. Samantha sprang auf und stürzte in die Wohnstube hinüber. Hawksbill folgte ihr, so schnell er konnte. Als er die offene Tür erreichte, sah er Samantha in verzweifeltem Kampf mit dem tobenden Freddy, dessen glasige Augen weit geöffnet, aber völlig blicklos waren.
    »Es ist ja gut, Freddy«, beteuerte Samantha immer wieder, während der Junge sie in seinem Fieberwahn herumschleuderte, als hätte sie überhaupt kein Gewicht. »Ich bin bei dir, Freddy. Du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst wieder gesund.«
    Fasziniert beobachtete der Alte, wie es Samantha schaffte, den Jungen so weit zu beruhigen, daß sie ihn wieder in die Kissen drücken konnte. Als er still lag, gab sie ihm einen Kuß auf die Stirn und sah dann mit glänzenden Augen zu Hawksbill auf. »Er ist aufgewacht«, flüsterte sie glücklich.
    Freddys Genesung ging nur sehr langsam voran. Doch nach einer Weile gab es keinen Zweifel mehr daran, daß er es schaffen würde. Er begann zu essen und ließ sich Samanthas treue Fürsorge dankbar gefallen. Dem {60} alten Hawksbill war klar, daß der Junge nur dank Samanthas liebevoller Pflege mit dem Leben davongekommen war, und er bewunderte die Kraft und den Mut des kleinen Mädchens. Samantha selbst dankte jeden Abend, wenn sie in ihrem Bett lag, Gott für die wunderbare Rettung ihres Freundes.
    Schwül und stickig kam der Sommer. Die Luft über der Zwei-MillionenStadt verdichtete sich vom Rauch aus unzähligen Fabrikschornsteinen und Dampfbooten zum schwefelgelben, stinkenden Dunst. Im Stadtteil Marylebone brach der Typhus aus und raffte vor den Augen der hilflosen Ärzte Tausende dahin. Doch während der Sommer sich langsam zum kühleren Herbst neigte und dann winterliche Kälte den Himmel über der Stadt reinigte, bis er in

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