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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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über wiederholt, bis der alte Mann vom Blutverlust und Erbrechen so geschwächt war, daß er nur noch um Gnade flehen konnte. Um sechs Uhr erklärte Dr. Pringle, mehr könne er für den Patienten nicht mehr tun.
    Isaiah Hawksbill bot einen erschreckenden Anblick: totenbleich, völlig ausgelaugt, das Gesicht uralt und verfallen.
    »Ich sterbe, Kind«, flüsterte er.
    Samantha saß auf dem Rand seines Bettes und drückte ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn. »Nein, Sir. Sagen Sie so was nicht.«
    »Ich habe nicht viel – Zeit. Ich habe gespürt, wie der Eiterherd geplatzt ist. Das Gift ist jetzt in meinem Blut. Aber ich muß dir noch etwas sagen, Kind.«
    »Sprechen Sie jetzt nicht, Mr. Hawksbill. Sparen Sie Ihre Kraft. Wir können morgen reden.«
    »Für mich – gibt es kein Morgen.«
    Sie war so verzweifelt, daß sie kein Wort sagen konnte. Dieser Pfuscher von einem Arzt! Er hatte alles nur schlimmer gemacht.
    Mit schwacher Gebärde hob der alte Hawksbill die Hand, um Samanthas Wange zu streicheln, doch ihm fehlte die Kraft. »Ich muß dir etwas sagen.« Sein Atem ging röchelnd. »Du sollst versorgt sein. Du sollst nicht von deiner Familie abhängig sein, Kind. Du mußt selbständig sein …«
    {72} Er stöhnte vor Schmerzen. Sein Mund war so trocken, daß ihm die Zunge am Gaumen klebte. »Nimm es«, flüsterte er heiser. »Es gehört jetzt dir. Wenn sie es finden, fällt es an die Krone. Das will ich nicht. Du bist das einzige, was ich habe …«
    Samantha beugte sich über ihn und umfaßte seine Schultern. »Bitte, bitte, sterben Sie nicht!«
    Hawksbill verdrehte die Augen. Einen Moment lang sah er aus wie ein Wahnsinniger. »Meine Bücher! Meine Pflanzen!« rief er heiser, dann fielen ihm die Augen zu, und er starb.
    Hin und her gerissen zwischen Schmerz und Zorn blieb Samantha bis tief in die Nacht hinein an seinem Bett sitzen. Später, als die Leichenträger kamen und ihn holten, wartete sie auf der Straße, bis der Wagen mit dem Toten fort war, dann ging sie nach Hause.
    Das Haus des alten Juden stand mehrere Jahre lang leer. Dann kaufte es jemand der Krone ab und machte eine Gastwirtschaft daraus. Vierzig Jahre nach Isaiah Hawksbills Tod verwüstete ein Feuer den St. Agnes Crescent. Als die Häuser ausgeschlachtet wurden, fand man unter den eingestürzten Dielenbrettern im Haus des alten Hawksbill eine verkohlte Eisenkassette. Das Geld, das sie enthalten hatte – Isaiah Hawksbills gesamte Ersparnisse, an die fünfzigtausend Pfund –, war in der Hitze der Feuersbrunst zu schwarzer Asche zerfallen.
     
    Das zweite Unglück folgte dem ersten so dicht auf dem Fuß, daß Samantha kaum Zeit blieb, um ihren alten Freund zu trauern.
    Eine Woche vor dem Guy-Fawkes-Tag 1874, fast genau zwei Jahre nach Matthews Amoklauf und seinem darauffolgenden spurlosen Verschwinden, hörte Samuel Hargrave zu essen auf. Samantha und Mrs. Scoggins konnten ihn weder mit Bitten noch mit Drohungen dazu bewegen, Nahrung zu sich zu nehmen. Vom Fasten geschwächt, zog er sich eine Lungenentzündung zu und starb am Abend des Feiertags im flackernden Licht der Freudenfeuer, das durch die Fenster seines Zimmers fiel.
    Samantha und James saßen ernst und still in der Wohnstube, während der Abgesandte der Anwaltskanzlei Welby & Welby das Testament ihres Vaters verlas. James sollte für die Dauer seiner medizinischen Ausbildung einen monatlichen Wechsel erhalten. Nach erfolgreichem Abschluß der Ausbildung und Eröffnung einer eigenen Praxis würde ihm der Rest des hinterlassenen Vermögens übergeben werden. Auch das Haus samt allem Inventar erbte James, mit der Auflage allerdings, daß er es vor Abschluß seiner Ausbildung nicht verkaufen durfte.
    Samantha sollte Playells Pensionat für junge Damen in Kent besuchen.

{73} 13
    Sie war wie erstarrt. In ihrem Sonntagskleid, dem Mrs. Scoggins in aller Eile etwas schwarze Spitze an Kragen und Ärmelbündchen genäht hatte, saß sie stumm und reglos im Zug, der aus London hinausfuhr. Mrs. Scoggins, nicht James, der seine Fortbildung am Middlesex Krankenhaus aufgenommen hatte, hatte sie zum Victoria-Bahnhof gebracht, ihr ein kleines Bündel mit Brot und Käse für die Reise in die Hand gedrückt und dann mit förmlicher Umarmung von ihr Abschied genommen.
    In Chislehurst wurde sie von einem sauertöpfischen alten Mann namens Humphrey mit einem Einspänner abgeholt. Ohne ein Wort zu wechseln, fuhren sie durch das sanfte Licht des späten Nachmittags. Die Luft roch nach lehmschwerer Erde und

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