Sturmjahre
und davon.
Die Frau sah Samantha über das Bett hinweg an. »Mir scheint, es hat dich getroffen. Schaffst du das?«
{77} Samantha schlug das Herz bis zum Hals. »Ja, Madam, ich hab’ ein bißchen Erfahrung.«
»Gut. Krempel deine Ärmel hoch. Es wird hart werden.«
Während Samantha ihre langen Zöpfe hinten ins Nachthemd stopfte und die Ärmel aufrollte, musterte sie die Frau auf der anderen Seite des Betts. Das blonde Haar, das schon grau zu werden begann, war in der Mitte des Kopfes gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten gedreht. Die Frau mußte ungefähr fünfzig Jahre alt sein, aber sie wirkte jugendlich und trotz ihrer Zierlichkeit robust und energisch. Samantha beobachtete fasziniert, wie sie sich über Mrs. Steptoe beugte, erst das eine Augenlid hochzog, dann das andere und aufmerksam das stille Gesicht betrachtete.
»Ich bin Dr. Blackwell«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Wie heißt du?«
»Samantha Hargrave, Madam.« Sie wurde rot. »Ich meine, Mrs. Blackwell. Ich meine Frau Doktorin –«
Elizabeth Blackwell lächelte sie flüchtig an. »Sag einfach Dr. Blackwell. Hilf mir jetzt, sie auszuziehen.«
Während sie die vielen kleinen Knöpfe öffneten und Mrs. Steptoe behutsam aus ihrem Mieder schälten, sprach Elizabeth Blackwell mit leiser Stimme. Sie hatte einen fremdartigen Akzent, wie Samantha ihn noch nie gehört hatte.
»Ich war in Chislehurst, um alte Freunde zu besuchen«, berichtete sie. »Als euer Kutscher in das Gasthaus kam und nach einem Arzt fragte, erbot ich mich mitzukommen. Der arme Mann, er wußte gar nicht, was er tun sollte. ›Ich suche einen Arzt‹, erklärte er. ›Keine Hebamme.‹«
Sie öffneten die Bänder von Mrs. Steptoes Unterröcken, die alle von Blut durchtränkt waren, und zogen sie ihr über die Beine herunter.
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht, Samantha«, sagte Elizabeth Blackwell in beruhigendem Ton, ehe sie zum Waschtisch ging, Wasser in die Schüssel goß und sich gründlich die Hände wusch.
»Die meisten Ärzte«, bemerkte sie, als sie wieder ans Bett kam, »waschen sich die Hände erst hinterher. Meiner Meinung nach kann es nicht schaden, wenn man’s schon vorher tut. – Also, mal sehen, was wir hier haben.«
Mit ihren kleinen Händen betastete sie Mrs. Steptoes Unterleib, drückte hier und dort ein wenig, schob dann sachte die Beine auseinander und nahm eine gründliche innere Untersuchung vor. Ihr schöngeschnittenes Gesicht zeigte tiefe Konzentration. Als sie fertig war, wischte sie sich die Hand an dem Handtuch, das sie vom Waschtisch mitgebracht hatte.
»Die arme Frau hatte eine Fehlgeburt.«
{78} Samantha sperrte Mund und Augen auf. »Mrs. Steptoe kriegt ein Baby?«
Elizabeth Blackwell griff nach ihrem Köfferchen.
»Ja, sie war schwanger. Durch den Sturz kam es zu einer Fehlgeburt. Nach der Größe der Gebärmutter zu urteilen, war sie ungefähr im vierten Monat.«
Samantha sah in das blasse, reglose Gesicht und dachte, zum erstenmal, solange sie sie kannte, sähe die Vorsteherin so aus, als wäre sie mit sich in Frieden.
»Ich möcht’ wissen, wie das passiert ist«, sagte Samantha nachdenklich. »Sie kennt doch jede einzelne Stufe, so oft, wie sie die Treppe rauf- und runtergelaufen ist …«
Elizabeth Blackwell warf ihr einen scharfen Blick zu. »Jetzt müssen wir uns erst einmal an die Arbeit machen. Bring mir die Lampe her und stell sie zwischen ihre Beine.«
Miss Whittaker kam auf Zehenspitzen hereingetrippelt, deponierte Wasserkrug und Tücher neben dem Bett und ging ohne ein Wort wieder hinaus. Als Samantha die Lampe aufs Bett gestellt hatte, half sie der Ärztin, die Beine der immer noch bewußtlosen Frau so weit wie möglich zu spreizen, schob sie in angewinkelte Haltung hoch und hielt sie so fest.
»Was machen Sie jetzt?«
»Das Kind ist nicht zu retten. Wir müssen es jetzt herausholen, sonst stirbt die arme Frau auch noch.«
Elizabeth Blackwell entnahm ihrem Köfferchen ein silbernes Instrument, das Samantha der Form nach an einen Entenschnabel erinnerte.
»Beobachte genau ihr Gesicht, Samantha«, sagte sie und rückte die Lampe ein wenig zurecht, um mehr Licht zu bekommen. »Beim kleinsten Anzeichen dafür, daß sie aufwacht, mußt du mir Bescheid sagen. Dann höre ich sofort auf. Jetzt muß ich schnell machen. Solange sie bewußtlos ist, kann ich ohne Narkose arbeiten. Das ist gut; denn die Narkose ist nicht ungefährlich. Bitte versuche ihre Beine ruhigzuhalten.«
Weit über die Bewußtlose gebeugt,
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