Sturmjahre
feuchtem Herbstlaub. Zu beiden Seiten der von Hecken begrenzten Landstraße konnte Samantha weit zurückgesetzt, am Ende langer Alleen stattliche Landhäuser erkennen, über denen mächtige alte Bäume ihre Äste ausbreiteten.
Durch eine eben solche Allee lenkte schließlich der alte Humphrey den Einspänner zu einem hochherrschaftlichen Landsitz im Tudorstil. Samantha hatte das Gefühl, daß hundert Augenpaare sie durch die bleiverglasten Fenster beobachteten, als sie aus der Kutsche stieg und zaghaft zum hohen Portal ging, wo eine stattliche Frau von etwa vierzig Jahren im schwarzen Bombassinkleid sie erwartete. Mrs. Steptoe, die Vorsteherin des Pensionats, musterte sie mit einem so mißbilligenden Blick, daß Samantha sich erschrocken fragte, was sie angestellt haben könnte, um sich so bald schon das Mißfallen der formidablen Matrone zugezogen zu haben.
Später erfuhr sie, daß es nichts und niemanden gab, an dem Mrs. Steptoe Gefallen finden konnte. Mit zweiundzwanzig Jahren zur mittellosen Witwe geworden, hatte Mrs. Steptoe sich in der mißlichen und demütigenden Lage gesehen, mit eigener Hände Arbeit für ihren Lebensunterhalt sorgen zu müssen. Sie hatte als Lehrerin in Playells Pensionat angefangen und sich im Lauf der Jahre mit diplomatischem Geschick und einigen Intrigen zur Vorsteherin hochgearbeitet. Die Damen Playell waren längst tot, das Pensionat wurde aus dem Vermögen eines Treuhandfonds und mit den von den höheren Töchtern bezahlten Schulgeldern betrieben; Mrs. Steptoe verfügte über unumschränkte Macht.
»Komm mit«, sagte sie kurz, nachdem Samantha sie begrüßt hatte, machte auf unsichtbarem Absatz kehrt und glitt so geschmeidig über den glänzenden Parkettboden, daß Samantha flüchtig der Verdacht kam, sie liefe auf Rädern.
{74} Das Haus, in der Zeit der Königin Elisabeth erbaut, hatte den Grundriß eines E. Vom großen Vorsaal aus, an den sich Aufenthaltsräume, Bibliothek und Wirtschaftsräume anschlossen, schwang sich eine imposante Steintreppe in den ersten Stock hinauf, wo sich im Nordflügel die Unterrichtsräume und im Südflügel die Schlafzimmer befanden. Mrs. Steptoe führte Samantha in ein prunktvolles altes Schlafgemach mit dunkler Holztäfelung, dicken Teppichen und einem großen offenen Kamin aus grauem Stein. In dem Raum standen vier Betten, zwei Schreibtische, zwei Sessel, ein Schrank und ein Waschtisch.
Einen Moment lang war Samantha wie erschlagen von der Pracht, dann ließ sie ihren abgewetzten Koffer fallen und rannte zum Fenster, um hinunterzuschauen.
Ein harter Schlag traf sie am Hinterkopf. Sie schrie auf und fuhr zornig herum. Mrs. Steptoe maß sie mit eisigem Blick. Damenhaftes Benehmen zu jeder Zeit und respektvolles Verhalten dem Lehrkörper gegenüber, erklärte sie kalt, gehöre zu den unumstößlichen Regeln des Pensionats. Wer dreimal gegen die Regeln verstieße, müsse zur Strafe eine Woche lang die Toiletten säubern.
In den folgenden Wochen und Monaten mußte Samantha oft die Toiletten säubern, und mit jedem Tag wuchs ihre Abneigung gegen das Pensionat und Mrs. Steptoe. Als der Frühling kam, begann sie Fluchtpläne zu schmieden.
Ungeschliffen wie sie war und aus ärmlichen Verhältnissen stammend, blieb Samantha unter ihren Mitschülerinnen eine Außenseiterin. Vom abendlichen Getuschel und Gekicher, das einsetzte, sobald die Lampen gelöscht waren, blieb sie ausgeschlossen. Aber sie hörte zu. Die heimlichen Gespräche ihrer drei Zimmergenossinnen drehten sich immer um dasselbe Thema.
Es gab nur eine männliche Lehrkraft in Playells Mädchenpensionat, und das war Mr. Roderick Newcastle. Er war gerade zwei Monate vor Samantha eingetroffen. Alle Mädchen waren rettungslos in den kahlköpfigen kleinen Mathematiklehrer verliebt, der beim Mittag- und Abendessen den Ehrenplatz zu Mrs. Steptoes Rechten einzunehmen pflegte.
»Ich hätte überhaupt nichts dagegen, mich Mr. Newcastle hinzugeben«, gestand eine von Samanthas Zimmergenossinnen eines Abends, nachdem Miss Tomlinson, die Lehrerin für Hygiene und Körperpflege, ihnen einen Vortrag über die ehelichen Pflichten gehalten hatte, die jede Frau ihrem Mann zuliebe erfüllen müsse, auch wenn es ihr keinerlei Genuß bereite.
»Ja, und dann kriegst du ein Kind.«
{75} »Wie kommt so ein Kind eigentlich raus?«
»Durch den Nabel.«
Samantha, die in ihrem Bett lag und lauschte, hätte am liebsten laut gelacht. Im St. Agnes Crescent aufgewachsen, hatte sie sehr früh gelernt, was es mit der
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