Sturmjahre
Sexualität auf sich hatte.
Das älteste der Mädchen, siebzehn Jahre alt, beendete die Diskussion, indem sie in sachlichem Ton erklärte: »Es ist überhaupt nichts Besonderes. Man muß es einfach über sich ergehen lassen und dabei an was Schönes denken.«
Die Mädchen schwiegen, und Samantha zog sich die Decke über die Ohren, um ihre Lieblingsphantasie zu spinnen: Durchbrennen.
Gleich morgen würde sie sich davonmachen, den Zug nach Liverpool nehmen und sich auf die Suche nach Freddy machen. Dann würden sie sich ein schönes Haus kaufen, heiraten und miteinander glücklich sein bis an ihr Lebensende. Oder sie würde warten, bis James seine eigene Praxis aufmachte, und dann zu ihm in die Harley Street ziehen und als Krankenschwester bei ihm arbeiten. Am genußvollsten allerdings war die Vorstellung, daß eines Tages eine prächtige Kutsche vorfahren und Freddy in Gehrock und Zylinder ihr entsteigen würde, um der verdatterten Mrs. Steptoe und den Mädchen mitzuteilen, er sei gekommen, Samantha auf sein Schloß in Cheshire zu holen.
Dumpfes Poltern, das wie ferner Donner klang, riß sie aus ihren Träumereien. Sie hörte einen Schrei und dann ein Krachen und fuhr hoch.
»Was war das?« flüsterte eines der Mädchen im Zimmer.
Draußen rannte jemand durch den Flur.
Samantha war als erste aus dem Bett. Sie lief zur Tür und spähte hinaus. Auch die anderen Türen im Gang hatten sich geöffnet. Überall standen die Mädchen in ihren langen Flanellnachthemden und schauten neugierig zum östlichen Ende des dunklen Korridors. Miss Tomlinson eilte im Morgenrock und mit fliegenden Zöpfen vorüber.
Die Mädchen tuschelten aufgeregt miteinander. Als sie Miss Tomlinson aufschreien hörten, liefen einige der wagemutigeren Mädchen, Samantha unter ihnen, zu ihr.
Miss Tomlinson lag ohnmächtig auf dem Treppenabsatz. Über das Geländer konnte man im trüben Licht der Nachtlampen unten Mrs. Steptoe sehen, die zusammengekrümmt am Fuß der Treppe lag und sich nicht rührte.
Eines der Mädchen sank mit einem Seufzer neben Miss Tomlinson zu Boden, die anderen hielten sich krampfhaft am Treppenpfosten fest. Samantha jedoch rannte so schnell sie konnte die Treppe hinunter und {76} kam gleichzeitig mit Miss Whittaker, der Handarbeitslehrerin, bei der ohnmächtigen Vorsteherin an. Ohne zu überlegen, kniete sie neben Mrs. Steptoe nieder und nahm ihr Handgelenk, um den Puls zu fühlen, wie sie das James bei ihrem Vater hatte tun sehen.
»Sie lebt«, sagte sie, und Miss Whittaker begann zu weinen.
»Sie braucht einen Arzt!« rief jemand.
Oben an der Treppe, wo Miss Tomlinson sich jetzt schwerfällig aufrichtete, hatten sich weitere Mädchen eingefunden. Roderick Newcastle, in Hemdsärmeln und Hosenträgern, drängte sich zwischen ihnen durch. Er blickte zu Mrs. Steptoe und wurde kalkweiß. »O Gott!« sagte er nur.
Irgend jemand weckte Humphrey und schickte ihn nach Chislehurst, den Arzt holen. Roderick Newcastle und Miss Whittaker trugen die immer noch bewußtlose Mrs. Steptoe in ihr Schlafzimmer im Erdgeschoß und legten sie behutsam aufs Bett. Während Miss Whittaker in einen Sessel sank und Roderick Newcastle sich die schweißfeuchte Stirn wischte, zog Samantha Mrs. Steptoe die Stiefel aus und legte eine Decke über sie.
Der Arzt kam lange nicht. Derry Newcastle machte im Kamin Feuer, und Miss Whittaker kochte eine Kanne Tee. Samantha blieb am Bett sitzen und überprüfte immer wieder Mrs. Steptoes Puls. Einmal hob sie die Decke hoch und sah, daß sich auf Mrs. Steptoes Kleidern ein großer Blutfleck ausgebreitet hatte.
Endlich klopfte es. Miss Whittaker sprang aus dem Sessel und öffnete die Tür. Verdutzt starrte sie die zierliche, etwa fünfzigjährige Frau an, die neben Humphrey auf der Schwelle stand.
Die Frau ging wie selbstverständlich an ihr vorüber, nahm ihr Cape ab und trat ans Bett.
»Wer sind Sie?« fragte Newcastle scharf.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie hinausgingen, Sir«, entgegnete die Frau ruhig. »Das ist hier nichts für Männer.« Sie beugte sich über Mrs. Steptoe und griff nach ihrem Handgelenk, wie Samantha es vorher getan hatte.
Widerstrebend ging Newcastle hinaus und schloß die Tür hinter sich. Die Frau hob die Decke hoch, sah den Blutfleck und sagte: »Ich brauche heißes Wasser und saubere Tücher.« Sie hob den Kopf und sah Samantha an. »Außerdem brauche ich hier Hilfe.«
Miss Whittaker stürzte schon zur Tür. »Ich hole das Wasser und die Tücher!« Und schon war sie auf
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