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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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mit aller Kraft. Sie hörte es unter sich Krachen und Klirren, spürte, wie das Eis unter ihren Knien in die Höhe ging und dann brach.
    Das Wasser war so kalt, daß sie nichts spürte. Samantha schnappte nach Luft, sie schlug mit Armen und Beinen um sich, aber Rock und Cape zogen sie in die Tiefe. Ihre Füße stießen gegen etwas Festes. Während sie mit der einen Hand versuchte, sich am Eis festzuhalten, das immer wieder brach, tauchte sie die andere Hand ins Wasser und bekam einen Haarschopf zu fassen. Aber sie konnte Hannah nicht heraufziehen. Sie ging unter wie ein Stein, Schwärze schlug über ihr zusammen.
    Aus, dachte sie. Und nur weil ich gezögert habe …
    Im nächsten Moment lag sie sonderbarerweise irgendwo auf dem Rücken {189} und starrte zum lichter werdenden Himmel hinauf. Sie spürte zwei kräftige Hände in den Achselhöhlen und begriff, daß sie über das Eis gezogen wurde.
    Manchmal tauchte sie für kurze Zeit aus Fieberphantasien auf, und Gesprächsfetzen fluteten an ihrem Ohr vorüber. Mr. Kendalls knarrige Stimme: »Was hatten sie mitten in der Nacht auf dem See zu suchen?« Dr. Jones: »Lösen Sie einen halben Teelöffel dieses Pulvers in lauwarmem Wasser und geben Sie es alle vier Stunden. Das senkt das Fieber.« Mrs. Kendall bekümmert: »Die arme Frau. Es ist ein Segen, daß es schnell ging. Sie mußte wenigstens nicht leiden.«
    Wenn sie schlief, wurde sie von Alpträumen gequält. Gespenster stiegen aus wogenden Nebelschwaden auf: Freddy, das grobgeschnittene, hübsche Gesicht so scharf gezeichnet, als stünde er vor ihr; James auf dem Seziertisch festgeschnallt, der Hals bläulich verfärbt vom Strick des Henkers; der grauenvoll entstellte Samuel; Isaiah Hawksbill in einer Flasche gefangen, aus der er nicht heraus konnte.
    Fast sechs Wochen lag sie auf Leben und Tod. Als sie dank Mrs. Kendalls fürsorglicher Pflege und Dr. Jones’ sachkundigen Bemühungen das Schlimmste überstanden hatte und auf dem Weg zur Genesung war, erzählte man ihr, daß Bauer McKinney und sein Sohn sie in jener Nacht aus dem Wasser gezogen hatten. Hannah jedoch hatten sie nicht mehr retten können.
     
    Dr. Jones saß an ihrem Bett, den Blick auf seine Taschenuhr gerichtet, und zählte ihren Puls. Zufrieden klappte er nach einer Weile die Uhr zu und ließ Samanthas Arm sachte aufs Bett nieder.
    »Mir scheint, Sie haben es geschafft, junge Dame«, sagte er lächelnd. »Sie haben eine kräftige Konstitution, Miss Hargrave. Ich habe kaum je erlebt, daß jemand sich von einer so schweren Lungenentzündung wieder erholt hat.«
    Sie starrte ihn nur benommen an.
    »Nun machen Sie sich mal keine Sorgen. Mrs. Kendall stellt Ihnen das Zimmer hier bis zum Ende des Semesters zur Verfügung. Mr. Kendall hat Ihre Sachen schon geholt. Was Ihr Studium angeht, so bin ich sicher, daß Sie das Versäumte ohne Mühe nachholen werden. Im übrigen werden wir selbstverständlich Nachsicht üben.«
    Ihre Lippen waren spröde. Sie befeuchtete sie mit der Zunge, ehe sie flüsterte: »Und – Sean?«
    Jones’ Gesicht verdunkelte sich. »Er wird benachrichtigt, sobald man ihn ausfindig machen kann. Ruhen Sie sich jetzt aus, mein Kind. Sie haben {190} Schlimmes durchgemacht. Nur ein paar Sekunden länger in diesem eisigen Wasser, und Sie wären erfroren.«
    Als der Frühling kam und die Erde wieder weich wurde, begrub man Hannah wie all die anderen im Winter Verstorbenen, die in der Gruft unter der Kirche auf ihr Begräbnis gewartet hatten, auf dem Friedhof von Lucerne. Es war einer jener späten Märztage, in denen der Winter ein letztes Mal versuchte, seine Herrschaft zu behaupten. Als der schlichte Fichtensarg in die Grube hinuntergelassen wurde, begann es zu schneien. Die wenigen Menschen, die Hannah das letzte Geleit gegeben hatten, standen mit gesenkten Köpfen um das Grab, während Pastor Patterson sich bemühte, seinen protestantischen Gebeten einen römisch-katholischen Hauch zu geben.
    Sobald Samantha wieder so kräftig war, daß sie allein ausgehen konnte, besuchte sie beinahe täglich Hannahs Grab, pflanzte Blumen, pflegte den kleinen, allmählich grünenden Hügel, als könnte sie Hannah damit etwas Gutes tun.
    Sie hätte jetzt auch wieder auf ihrer Lichtung Zuflucht suchen können, aber es zog sie unweigerlich zum Grab, als könnte sie dort die Antwort auf die Fragen finden, die sie quälten. Was ist geschehen, Hannah? Du wußtest doch, daß ich dir helfen würde, warum hast du es getan? Weil ich so wenig einfühlsam war?

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