Sturmjahre
Hilflosigkeit machte sie wütend. Gleichzeitig fühlte sie {187} sich schuldig, weil sie das Gefühl hatte, ihre Freundin im Stich gelassen zu haben.
Den ganzen Abend rannte sie in ihrem Zimmer hin und her wie ein gefangenes Tier und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Und immer wieder kam sie zu der gleichen Erkenntnis: Sie mußte Hannah helfen.
Im Grunde war es sehr einfach: Hannah war in Not und brauchte Hilfe. Geradeso, wie ich einmal Hilfe brauchte, dachte Samantha. Niemand wollte mir Unterkunft gewähren, jede Tür war mir verschlossen, aber Hannah war menschlich genug, mich bei sich aufzunehmen. Was hätte ich ohne sie angefangen.
Aber es kam noch ein anderer Aspekt dazu. Hannah war eine Frau, die in einer beängstigenden Situation, in die ein Mann niemals geraten konnte, bei einer anderen Frau Hilfe suchte.
Samantha blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Sie wußte jetzt, daß weiteres Nachdenken überflüssig war. Einmal dachte sie: Habe ich das Recht, das Leben eines ungeborenen Kindes zu beenden? Und gleich kam die Antwort: Habe ich das Recht, Hannah eine Auskunft zu verweigern, die ihr genauso zusteht wie mir?
Sie ging zu Hannahs Zimmer und klopfte. Es überraschte sie nicht, als es still blieb. Hannah schlief wahrscheinlich fest.
Sie klopfte noch einmal, lauter diesmal. Dann drehte sie den Knauf. Die Tür öffnete sich. In Hannahs Zimmer war es so finster und kalt wie in einer Höhle, und Hannah war nicht da. Samantha rannte rufend die Treppe hinunter, schaute in jedes Zimmer, lief dann in den Flur, schlüpfte in ihre Stiefel, legte das dicke Cape und den Wollschal um und zog sich ihre Handschuhe über. Als sie die Haustür öffnete, stand die eiskalte Luft wie eine gläserne Wand vor ihr.
Es hatte geschneit. Die Fußspuren, die vom Haus wegführten, waren deutlich zu sehen. Samantha zog die Kapuze fester um ihren Kopf und ging, der Spur von Hannahs Stiefeln folgend, in die klirrend kalte Nacht hinaus. Sie atmete langsam und flach, jeder Atemzug ein eisiger Stich in ihrer Lunge. Die Spur führte am Waldrand entlang und dann zum See hinunter. Als Samantha die steile Uferböschung herunterkam, sah sie mit Entsetzen, daß die Spur auf den gefrorenen See hinausführte.
Sie blieb stehen, legte die Hände um den Mund und rief laut Hannahs Namen. Ihre Stimme schallte geisterhaft durch die eisige Stille. Wieder rief sie. Im fahlen Sternenlicht dehnte sich der See wie eine phantastische Landschaft in Weiß. Sie suchte verzweifelt nach Bewegung, hielt den Atem an, in der Hoffnung, ein Geräusch wahrzunehmen, aber die ganze Welt war wie gefroren, in Reglosigkeit und Stille erstarrt.
{188} Die schneidende Kälte drang ihr durch die Kleider. Sie konnte ihre Fingerspitzen und ihre Zehen nicht mehr spüren. Sie wollte mit den Armen wedeln und mit den Füßen stampfen, aber sie konnte nicht. Sie war wie gebannt.
Da hörte sie es plötzlich. Ein schwaches Knacken wie das Splittern eines feinen Knochens. Sie drehte den Kopf. Ja, da draußen auf dem Eis bewegte sich etwas.
»Hannah!« rief sie so laut sie konnte und stürzte auf die Eisfläche. Immer wieder rief sie Hannahs Namen, während sie über das Eis rannte. Einmal rutschte sie aus und fiel und hatte Mühe, sich wieder hochzurappeln. Danach ging sie vorsichtiger, die Arme ausgestreckt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Alle paar Meter blieb sie stehen und blickte auf, um sich zu vergewissern, daß sie in der richtigen Richtung lief. Der Himmel hinter den Bäumen links von ihr wurde heller; ein seltsames blasses Licht fiel über die Bäume hinweg auf den See. Sie konnte Hannah jetzt deutlich erkennen, sah, daß sie stockstill stand, als hörte sie ihren Namen nicht, der weit über den See getragen wurde.
»Rühr dich nicht!« schrie Samantha. »Das Eis bricht.« Sie versuchte, schneller zu laufen, während das Eis unter ihren Füßen knirschte.
Als Samantha nahe genug war, sah sie, daß Hannah auf ihren hölzernen Schlittschuhen stand.
»Hannah!« rief sie außer Atem. »Rühr dich nicht!«
Aber Hannah schien sie nicht gehört zu haben. Sie machte einen Schritt und im nächsten Moment war sie verschwunden.
Samantha war starr vor Entsetzen, dann rannte sie los, spürte, wie es ihr die Beine unter dem Körper wegzog und fiel auf die Knie. Auf allen Vieren kroch sie weiter. Das Eis schwankte beängstigend unter ihr. Sie erreichte das schwarze Loch und schrie: »Hannah! Hannah!« Ein Zipfel des Capes lag noch auf dem Eis, Samantha packte es und zog
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