Sturmjahre
Weil ich dir durch mein Zögern, mit meinen Worten über die Unverletzlichkeit des Lebens unerträgliche Schuldgefühle gemacht habe? Ich war dir keine Hilfe, liebste Hannah. Ich habe dich in deiner Not im Stich gelassen. Es gibt gar keine Witwe Dorset, nicht wahr? Die hast du nur erfunden, um mir einen schuldfreien Ausweg zu öffnen.
Ein rauher Frühlingswind fuhr durch die Bäume über dem Grab, und Samantha glaubte, Hannahs Stimme hören zu können. »Mach dir kein Kopfzerbrechen, Herzchen. Das ist meine Strafe. Damit straft mich der Herr für das, was ich getan habe.«
Samantha spürte flammenden Zorn. Wo ist dann Olivers Strafe, Hannah? Er hat so sehr gesündigt wie du. Womit hat der Herr ihn gestraft?
Die tägliche Zwiesprache mit Hannah gab Samantha Kraft und ein neues Verständnis. Der tiefe Schmerz über Hannahs Tod wich Zorn und Entschlossenheit. Die Männer, dachte sie, begreifen nicht, was hier wirklich geschehen ist, verstehen nicht, was Hannahs Handlung zu bedeuten hat, und wenn sie es auch nur ahnten, würden sie sich abwenden, um die Wahrheit nicht sehen zu müssen. Denn die Wahrheit ist, daß sie nicht das sind, wofür sie sich halten. Die Männer täuschen sich, {191} wenn sie glauben, die Herren zu sein, die von Gott eingesetzten Wächter über Leben und Tod. Doch die erste Entscheidung über Leben und Tod liegt einzig bei den Frauen, das hat Hannah bewiesen. Und die Männer haben keine Ahnung davon.
Was für eine fürchterliche Macht haben wir Frauen, Hannah. Kein Wunder, daß die Männer uns so fürchten.
Und weil sie uns fürchten, unterdrücken sie uns, aber nur mit unserer Einwilligung. Nur die Geduld der Frauen ist die Macht der Männer.
Samantha kniete vor Hannahs Grab nieder. »Ich werde wiedergutmachen, was dir angetan worden ist, Hannah, das verspreche ich. Ich kann dich nicht wieder zum Leben erwecken, ich kann das Unrecht, das ich dir angetan habe, nicht ungeschehen machen, aber ich verspreche dir, Hannah, daß du mich immer begleiten wirst und dein Tod nicht umsonst gewesen sein soll. Durch ihn habe ich diese neue Kraft gewonnen: Nie wieder werde ich mich von ihnen beherrschen lassen. Ich werde selbst über mich bestimmen. Ich verspreche dir, Hannah, daß ich um deinetwillen nie wieder zögern werde …«
20
Äußerlich ruhig und gelassen, war Samantha innerlich aufs Äußerste angespannt. Der feierliche Zug war vor der Kirchentreppe zum Stehen gekommen, um den Fotografen Gelegenheit zu geben, ihre Aufnahmen zu machen. Samantha stand mit hocherhobenem Kopf, doch sie konnte die dunkle Wolke, die sich über sie gesenkt hatte, nicht vertreiben. Erst der Traum der vergangenen Nacht, der sie erschreckt und beunruhigt hatte, und jetzt der Boykott durch die Frauen.
Warum nur hatten sie ihr das angetan? Sie wußte, daß unter den Frauen selbst nach diesen zwei Jahren noch gewisse Vorbehalte bestanden. Die gute Mrs. Kendall hatte keinen Hehl daraus gemacht, daß Samantha ihrer Meinung nach durch den Besuch einer Männeruniversität ihren guten Ruf gefährdete, und einige besonders starrsinnige Frauen wichen immer noch auf die andere Straßenseite aus, wenn sie Samantha kommen sahen. Aber im Laufe der vergangenen zwei Jahre hatte Samantha geglaubt, die Frauen hätten sie akzeptieren gelernt. Sie war tief enttäuscht. Hannah, wenn sie noch am Leben gewesen wäre, wäre bestimmt zur Abschlußfeier gekommen.
Sean Mallone war Anfang Mai nach Hause gekommen und vor Schmerz fast wahnsinnig geworden, als er vom Tod seiner Frau gehört hatte. Er {192} hatte das Haus mit allem, was darin war, verkauft und war für immer in die Berge gezogen.
Die Indianer nahmen neben dem Portal Aufstellung und stimmten wieder ›America‹ an. Der Zug setzte sich von neuem in Bewegung. Als Samantha in den kühlen, dämmrigen Innenraum der Kirche trat, hörte sie erregtes Getuschel und das Rascheln seidener Röcke.
Die Frauen! Sie waren gekommen! In farbenfrohen Kleidern und prächtigen Hüten drängten sie sich in den Bänken und auf der Galerie. Ihr zu Ehren hatten sie ihren Sonntagsstaat angelegt. Samantha schossen die Tränen in die Augen.
Während die Studenten sich zu den vorderen Bänken begaben, drängten nun auch die Männer herein, um ihre Plätze einzunehmen. Es knisterte vor Spannung. Dies war ein großer Tag für das kleine Lucerne.
Jones stieg auf das Podium, das man vor dem Altar errichtet hatte, und sprach die ersten Worte seiner Rede, die er jedes Jahr hielt, während er im stillen den
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