Sturmjahre
sie angesprochen hatte, war gewiß schon über sechzig, doch sie war eine auffallend schöne Frau. Auf den ersten Blick wirkte das schmale Gesicht mit den tiefliegenden Augen und dem scharf geschnittenen Kinn streng. Doch das Lächeln, mit dem sie Samantha die Hand reichte, war warm und gewinnend. »Ich bin Miss Anthony, und das ist meine Freundin, Mrs. Stanton.«
»Guten Tag«, sagte Samantha und gab beiden Frauen die Hand.
»Wir sind extra hergekommen«, sagte Miss Anthony, »um Ihre große Leistung zu würdigen und Ihnen die wärmsten Glückwünsche der Schwestern im ganzen Land zu übermitteln. Was Sie da geschafft haben, Dr. Hargrave, ist keine Kleinigkeit und findet allenthalben Anerkennung. Sie haben einen großen Sieg errungen, der die Sache der Frauen auf der ganzen Welt einen großen Schritt vorwärtsbringen wird.«
Samantha runzelte leicht verwirrt die Stirn.
»Vielleicht wissen Sie nicht«, fuhr Miss Anthony fort und drehte sich so, daß sie beinahe im Profil stand, »wer wir sind und was für eine Sache wir vertreten, aber das spielt im Augenblick keine Rolle. Wir sind nicht hier, um zu missionieren oder zu rekrutieren, sondern einzig, um Ihnen zu danken.«
»Mir zu danken? Wofür denn?«
»Für das, was Sie geleistet haben. Es ist doch so, Dr. Hargrave, daß die Frauen dieses Landes wie Sklavinnen gehalten werden, und dies um so erniedrigender ist, als sie sich dies nicht einmal bewußt sind. Mit Ihrer Leistung, Dr. Hargrave, zwingen Sie die Frauen genauer hinzuschauen, Sie geben ihnen den Mut und das Bewußtsein, für ihre eigene Freiheit einzutreten.«
Samantha fand es merkwürdig, wie Miss Anthony sich stets so drehte, daß ihr Gesicht nur im Profil zu sehen war. Sie wußte nicht, daß Susan B. Anthony unter einer Entstellung litt – sie schielte auf einem Auge. Ein stümperhafter Chirurg hatte versucht, den Fehler zu korrigieren, aber er hatte ihn nur schlimmer gemacht.
Mrs. Stanton legte Samantha die Hand auf den Arm und sagte: »Dr. Hargrave, Sie gehören der neuen Generation an. Miss Anthony und ich gehören schon fast zum alten Eisen. Wir haben den Kampf begonnen und haben ihn mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln geführt. Jetzt {195} übergeben wir an die nächste Generation von Frauen und vertrauen darauf, daß sie ihn zu Ende bringen wird.«
Verblüfft sah Samantha den beiden Frauen nach, als diese sich mit kurzem Gruß zum Gehen wandten, und merkte nicht, daß Jack Morley, der Reporter vom
Baltimore Sun
sich schon wieder an sie herangepirscht hatte.
»Freundinnen von Ihnen?« fragte er.
Sie drehte sich um, sah den gezückten Bleistift in seiner Hand und sagte freundlich: »Verzeihen Sie, Sir, aber ich muß zu den anderen.«
Einen Moment lang sah der Reporter ihr nach, dann befeuchtete er die Spitze seines Bleistifts mit der Zunge und schrieb auf, was er später seinem Redakteur telegrafieren wollte: ›Das reizende Fräulein Doktor Hargrave sollte sich in ihrer Praxis auf gebrochene Herzen spezialisieren.‹
Er stand im Gespräch mit Dr. Page auf der Treppe vor der Kirche. Samantha blieb ein wenig entfernt stehen und beobachtete die beiden. Plötzlich wurde wieder lebendig, woran sie lange nicht mehr gedacht hatte: der glanzvolle Ball am Heiligen Abend, Walzer und Champagner, Joshuas Kuß, die Nacht, die sie mit ihm verbracht hatte. Aber auch anderes fiel ihr ein, was sie aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte: die unangenehme Szene mit Joshua im Beisein von Mark Rawlins, Marks offenkundiges Unbehagen, die Art, wie er Joshua genötigt hatte, schließlich doch mit ihr zu tanzen, und schließlich Joshuas Worte, die sie damals verletzt und verwirrt hatten: ›Ich kenne Mark seit langem und habe nie erlebt, daß er eine Frau so angesehen hat wie Sie. Er ist hingerissen von Ihnen. Er wäre der richtige Mann für Sie.‹
Damals hatten ihr Joshuas Worte nur weh getan. Jetzt aber, während sie Mark zum erstenmal wirklich wahrnahm, fragte sie sich, ob er nicht richtig gesehen hatte. Ja, in jenem Augenblick vielleicht. Aber erinnerte sich Mark Rawlins überhaupt an jenen Abend? Erinnerte er sich an sie? War es möglich, daß seine Anwesenheit in Lucerne mehr als reiner Zufall war?
Er schaute zu ihr herüber, als hätte er gewußt, daß sie da war, und wieder trafen sich ihre Blicke flüchtig. Dann wandte er sich erneut Page zu, schüttelte ihm mit einigen Worten die Hand und kam die Treppe herunter.
»Dr. Hargrave«, sagte er mit einem warmen Lächeln, »ich möchte Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher