Sturmjahre
säumigen Simon Kent mit seinem verflixten handgeschriebenen Diplom verfluchte. Und Samantha erlebte die zweite Überraschung dieses denkwürdigen Tages. Oben auf dem Podium saß zusammen mit den anderen Dozenten Mark Rawlins.
Samantha starrte ihn an wie eine Erscheinung. Wieso war ihr damals auf dem Ball überhaupt nicht aufgefallen, was für ein gutaussehender Mann er war? Sie war offenbar so besessen gewesen von Joshua, daß sie ihn kaum wahrgenommen hatte.
Mark Rawlins sah zu ihr hin. Ihre Blicke trafen sich. Er lächelte flüchtig. An seinem linken Mundwinkel gewahrte Samantha eine kleine weiße Narbe, ein feiner Makel im Ebenmaß dieses schönen Gesichts. Dann wandten beide ihre Aufmerksamkeit der Rede des Dekans zu.
Mark Rawlins war, wie sich herausstellte, der Gastsprecher bei dieser Promotionsfeier. Als Jones ihn vorstellte, stand er
langsam auf und ging mit ruhigem, selbstsicherem Schritt zum Rednerpult. Samantha fiel ein, wie herrlich es gewesen war, mit
ihm zu tanzen.
Während Mark Rawlins sprach und mit seiner ungezwungenen, heiteren Art die Zuhörer in seinen Bann schlug, versuchte Samantha sich zu erinnern, was er ihr damals auf dem Ball über sich selbst erzählt hatte. Aber vergeblich. Sie war so sehr mit Joshua beschäftigt gewesen, daß sie von dem, was Mark Rawlins gesprochen hatte, kaum ein Wort aufgenommen hatte. Es war, als hätte sie einen völlig Fremden vor sich.
Nachdem Mark an seinen Platz zurückgekehrt war, eilte Jones wieder zum Pult und begann die Namen der Absolventen aufzurufen, obwohl {193} ihm nicht wohl dabei war, da Kent mit Samantha Hargraves Urkunde noch immer nicht erschienen war.
Er rief die Studenten in alphabetischer Reihenfolge auf. Als auf
Domine Gower
sogleich
Domine Jarvis
folgte, sagte sich Samantha, daß er sie wohl als Letzte aufrufen würde. Es schien ihr ewig zu dauern. Einer nach dem anderen stiegen die jungen Männer zum Podium hinauf, nahmen ihre Urkunde in Empfang und wurden mit einem Händedruck des Dekans wieder entlassen. Niemand bemerkte, wie nervös Jones war. Niemandem fiel auf, daß in dem Stapel von Urkunden eine fehlte. Die jungen Männer, die ihr Diplom schon in der Hand hielten, bemühten sich, ruhig und geduldig auszuharren, und Samantha kämpfte gegen die Versuchung, wieder zu Mark Rawlins hinzusehen.
Hinten wurde das Portal aufgestoßen. Ein Mann eilte an der Wand entlang nach vorn. Als er die erste Bank erreichte, beugte er sich zu einem der Kirchendiener hinunter, flüsterte ihm etwas zu und übergab ihm ein Schriftstück. Dann zog er sich wieder zurück. Der Kirchendiener stand auf, neigte sich nach vorn und legte das Schriftstück auf das Rednerpult. Henry Jones atmete auf. Er nahm die letzte Urkunde auf dem Pult und rief stolz »Domina Hargrave«.
Halbwegs geordnet noch bewegte sich der Zug aus der Kirche, aber kaum waren die neugebackenen Ärzte draußen im Freien, schleuderten sie ihre Hüte in die Luft und erhoben ein Freudengeschrei wie kleine Jungen am letzten Schultag. Vor der Kirche ging es zu wie auf dem Rummelplatz: Eltern umarmten ihre Söhne, distinguierte Herren klopften sich gegenseitig auf die Schultern, elegant gekleidete Damen tupften sich die feuchten Augen mit dem Spitzentüchlein, Kinder jagten hin und her, eifrige Reporter prallten zusammen. Samantha sah sich suchend um. Mark Rawlins war verschwunden.
»Miss Hargrave.« Es war wieder der rüpelhafte Reporter vom
Baltimore Sun.
»Wie spricht man Sie jetzt an? Fräulein Doktor?«
Sie tat so, als hätte sie ihn nicht gehört und drängte sich ins Gewühl. Mrs. Kendall hielt sie fest und sagte überschwenglich, wie schön die Feier gewesen sei und wie bezaubernd Samantha in ihrem Kleid aussähe. Dann näherte sich Henry Jones mit stolzgeschwellter Brust und verkündete so laut, daß die Reporter es hören mußten, Samantha wäre der Stolz des Colleges. Andere wünschten ihr lächelnd Glück, man überhäufte sie mit Worten des Lobes und der Bewunderung, Frauen, die sie früher kaum eines Blickes gewürdigt hatten, taten jetzt, als wären sie alte Freundinnen. Kommilitonen, Dozenten, Reporter umringten Samantha. Sie {194} lächelte höflich und hörte kaum, was sie alle sagten. Wohin war Mark Rawlins verschwunden?
»Dr. Hargrave«, sagte hinter ihr eine Frau mit tiefer, kultivierter Stimme, »dürfen wir Ihnen unsere aufrichtigen Glückwünsche aussprechen?«
Sie drehte sich um. Die zwei Frauen, die vor ihr standen, hatte sie noch nie gesehen. Die eine, die
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