Sturmklänge - Sanderson, B: Sturmklänge - Warbreaker
Er geht einfach hinein.
Vivenna warf einen Blick auf die Mauer. Ein schmaler, felsiger Sims lief außen herum. Da die Wachen wegen der vielen Menschen, die das Innere betreten wollten, so abgelenkt waren…
Sie huschte zur Seite. Es war früh am Morgen, und die Sonne stand noch nicht über den Bergen im Osten. Oben auf der Mauer befanden sich ebenfalls Wächter– Vivennas Lebensgespür verriet es ihr–, aber sie war außerhalb ihres Blickfelds. Vielleicht konnte sie sich an ihnen vorbeischleichen.
Sie wartete, bis eine der Patrouillen sie passiert hatte, und erweckte dann eines ihrer Tücher. » Hebe mich«, befahl sie und warf ein aller Farben beraubtes Taschentuch weg. Der Stoff zuckte hoch in die Luft, wickelte sich um sie, während sein oberes Ende an der Mauer hing. Wie ein muskulöser Arm hob er sie hoch und setzte sie auf der Mauer ab. Sie schaute sich um und holte ihren Hauch zurück. In einiger Entfernung zeigten ein paar Wächter in ihre Richtung.
Du bist darin nicht besser als Vascher, bemerkte Nachtblut. Ihr könnt euch einfach nicht anschleichen! Yesteel wäre enttäuscht von euch.
Sie fluchte, erweckte den Stoff erneut und befahl ihm, sie im Hof abzusetzen. Dann holte sie ihren Hauch sofort zurück und rannte quer über den Rasen. Hier hielten sich nur wenige Leute auf, deshalb fiel sie umso mehr auf.
Die Vorderseite des Palastes wurde von einer Gruppe von Männern bewacht, die keine Uniformen trugen. Da drin ist er, sagte Nachtblut. Ich kann ihn spüren. Dritter Stock. Wo er und ich schon einmal waren.
Vivenna hatte plötzlich ein Bild dieses Raumes in ihrem Kopf. Sie runzelte die Stirn. Du bist erstaunlich nützlich für eine böse Vernichtungswaffe, dachte sie.
Ich bin nicht böse, sagte Nachtblut– nicht abwehrend, sondern nur klarstellend, als ob es Vivenna an etwas erinnern wollte, das sie vergessen hatte. Ich vernichte das Böse. Vielleicht sollten wir diese Männer vor uns vernichten. Sie sehen böse aus. Du solltest mich aus der Scheide ziehen.
Aus irgendeinem Grund bezweifelte Vivenna, dass das eine gute Idee war.
Na los, sagte Nachtblut.
Die Soldaten deuteten auf sie. Sie warf einen Blick zurück und sah, wie andere über den Rasen auf sie zuliefen. Austre, vergib mir, dachte sie. Sie biss die Zähne zusammen und warf Nachtblut, das noch in dem Laken steckte, den Wächtern vor dem Gebäude entgegen.
Sie hielten inne und starrten auf das Schwert, das nun aus dem Laken rutschte und dessen silberne Scheide im Rasen glitzerte. Ja, so geht es auch, bemerkte Nachtblut, dessen Stimme sich nun ferner anhörte.
Einer der Soldaten hob das Schwert auf. Vivenna schoss an ihnen vorbei; die anderen Soldaten beachteten sie nicht mehr. Sie hatten den Kampf begonnen.
In diese Richtung kann ich nicht gehen, dachte sie mit Blick auf den Vordereingang, denn sie wollte es nicht riskieren, sich an den Kämpfenden vorbeizudrängen. Stattdessen rannte sie zur Seite des gewaltigen Palastes. Die unteren Ebenen bestanden aus stufenartig angeordneten schwarzen Blöcken, die dem Palast ein pyramidenartiges Aussehen verliehen. Darüber ähnelte er eher einer üblichen Festung mit steil abfallenden Wänden. Und dort befanden sich Fenster. Vielleicht konnte Vivenna eines davon erreichen.
Sie zuckte mit den Fingern, und die Bänder an ihren Ärmeln zogen sich zusammen und dehnten sich wieder. Dann sprang sie. Ihre erweckte Hose schleuderte sie einige Fuß höher in die Luft, als sie es aus eigener Kraft vermocht hätte. Sie streckte die Arme aus, und ihre Ärmelbänder packten wie mit langen Fingern den Rand eines großen, schwarzen Blocks. Unter Mühen zog sich Vivenna an dem Quader hoch.
Unten schrien und kreischten die Männer, und Vivenna schenkte ihnen einen kurzen Blick. Der Wächter, der Nachtblut an sich genommen hatte, kämpfte gegen die anderen, und eine dünne Wolke aus schwarzem Rauch umgab ihn. Während sie zusah, wich er in den Palast zurück, und die anderen folgten ihm.
So viel Böses, sagte Nachtblut; es hörte sich an wie bei einer verärgerten Hausfrau, während sie Spinnweben von der Decke fegt.
Vivenna wandte sich ab und fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie das Schwert den Männern überlassen hatte. Sie sprang weiter hoch, zog sich auf den nächsten Quader, kletterte immer höher, als die Soldaten, die sie von der Mauer aus gesehen hatten, vor dem Palast eintrafen. Sie trugen die Farben der Stadtwache. Einige von ihnen stürzten sich in den Kampf um Nachtblut, die meisten aber
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