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Sturmkönige 01 - Dschinnland

Sturmkönige 01 - Dschinnland

Titel: Sturmkönige 01 - Dschinnland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Wiedersehen. Aber er wollte nicht verlieren. Würde nicht verlieren. Den Preis der Niederlage sollten andere zahlen. Auch Junis, wenn er darauf bestand.
    Nicht ich, dachte Tarik. Ganz sicher nicht ich.
    Junis war schnell, das musste er ihm lassen. Dass es ihm gelungen war, die anderen abzuhängen und bis zur Spitze aufzuholen, überraschte Tarik. Sein Bruder war fünf Jahre jünger als er, dreiundzwanzig, und seit mehr als drei Jahren hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Gelegentlich hatten sie einander gesehen – Samarkand war nicht groß genug, um sich gänzlich aus dem Weg zu gehen –, aber beide hatten sich Mühe gegeben, den anderen nicht mit Blicken oder Gesten herauszufordern.
    Soweit Tarik wusste, hatte Junis noch nie an einem der verbotenen Rennen teilgenommen. Wie aber sollte er sein Auftauchen deuten, wenn nicht als Herausforderung? Dabei war es weniger Junis’ Versuch, ihn abzudrängen, der Tarik wütend machte. Allein die Tatsache, dass er gegen ihn antrat, war ein Angriff. Ließen sich Verachtung und Stillschweigen nur noch von einer offenen Kampfansage übertreffen?
    Junis hatte nichts vergessen, nichts vergeben. Er war jung, ein Heißsporn, ein halbes Kind – das alles hier war nur ein weiterer Beweis dafür –, und nun auch noch sein Gegner.
    »Das hier hat nichts mit dir zu tun«, rief ihm Junis zu, gedämpft durch das Tuch über seinem Mund. »Nichts, was ich tue, hat mit dir zu tun.«
    Tarik gab keine Antwort. Er schob die Hand tiefer ins Muster seines Teppichs und spürte das vertraute Kribbeln heftiger werden, beinahe aufsässig. Das Muster zog sich um seine Finger zusammen wie Fasern einer bizarren Muskulatur. Sein halber Unterarm war in der Oberfläche des Gewebes verschwunden. Der Teppich schluckte seine Hand, betastete sie, las aus ihr die Befehle ihres Besitzers. Tarik sandte eine Serie knapper Beschwörungen ins Muster. Noch schneller. Ein Zickzackkurs. Und etwas niedriger zum Boden, damit die Soldaten die näher kommenden Teppichreiter nicht bemerkten.
    Junis hingegen scherte sich nicht um Höhe. Nicht um die Soldaten.
    Das hier hat nichts mit dir zu tun. Von wegen. Es hatte alles mit ihm zu tun. Mit den Vorwürfen, dem Zorn, den Jahren maßloser Verbitterung.
    Junis war jetzt wieder neben und eine halbe Mannslänge über ihm. Er blickte nach vorn, den Zwiebeltürmen und Zinnen des Emirpalastes entgegen. Mondlicht vereiste die Mauern, floss als silbriger Gletscherguss die große Kuppel der Moschee hinab. Die Straße führte um eine leichte Kurve, schmiegte sich vierhundert Meter weiter vorn an die Palastmauer und verlief dann parallel zu ihr. Oben auf dem Wehrgang bewegten sich Gestalten hastig durcheinander. Kein gutes Zeichen.
    Junis blickte nicht zu seinem Bruder hinüber. Eine Überheblichkeit, die ihn teuer zu stehen kommen würde. Nach wie vor fehlte ihm Fingerspitzengefühl.
    Tarik ließ seinen Teppich aufsteigen, bis seine Kante knapp unterhalb von Junis’ Teppich lag. Die beiden Ränder überlappten sich, aber Tarik hatte nicht vor, seinen Bruder zu rammen.
    Sie befanden sich jetzt nahezu auf einer Höhe, hätten die Arme ausstrecken können, um sich an den Händen zu berühren. Während sie dahinschossen wie ein einziger Teppich mit zwei ungleichen Reitern, wandte Tarik den Kopf.
    »Warum tust du das?«
    Junis gab keine Antwort. Sein Arm stieß tiefer ins Muster. Wahrscheinlich hatte er in diesem Augenblick erkannt, was Tarik vorhatte. Vergeblich versuchte er seinen Teppich unter Kontrolle zu bringen. Zu spät. Die Kanten der beiden Teppiche spürten einander, tasteten mit ihren Fransen den anderen ab, besaßen Eigenleben genug, um sich den Befehlen eines unerfahrenen Reiters zu widersetzen, bis ihre Neugier befriedigt war. Wie Hunde, die einander beschnupperten und darüber ihren Gehorsam vergaßen. Junis kam nicht dagegen an.
    Tarik hingegen würde ein einziger Befehl genügen. Und er sah Junis im Schatten des Sehschlitzes an, dass er diese Gewissheit teilte.
    »Warum?«, fragte Tarik erneut und zum letzten Mal.
    Balkone und staubige Markisen zogen an ihnen vorüber. Dann und wann ein Gesicht im Kerzenschein zwischen Fensterläden.
    Irgendwo wieherte ein Elfenbeinpferd, streckte Schwingen und Gelenke mit einem Knirschen wie von brechendem Geäst. Es war nirgends zu sehen, musste auf einem nahen Dach geschlafen haben und von den vorübersausenden Teppichen geweckt worden sein. Es würde ihnen nicht in die Quere kommen; verwilderte Elfenbeinpferde waren ängstlich

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