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Sturmkönige 01 - Dschinnland

Sturmkönige 01 - Dschinnland

Titel: Sturmkönige 01 - Dschinnland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tunnel, alle unterschiedlich in Breite und Höhe, tiefer hinein ins Innere der Neststadt. Mehrfach begegneten ihnen Dschinne, die ihm kaum Beachtung schenkten. Alle waren in großer Eile, und auch die erhöhte Wachsamkeit am Abgrund war auffällig. Irgendetwas ging vor; etwas, das den Dschinnen Sorge bereitete.
    Als er sich hatte gefangen nehmen lassen, hatte er keinen konkreten Plan gehabt. Nur die Hoffnung, dass man ihn zu Junis stecken würde und sie gemeinsam einen Weg finden mochten, von hier zu entkommen. Aber jetzt erkannte er, dass es dazu nicht kommen würde.
    Noch immer wusste er nicht, wohin die Sklaven gebracht wurden, aber in den Tiefen der Höhle hatte er ein fernes Rumoren ausmachen können, wie von zahllosen Stimmen in großer Ferne. Die berüchtigten Pferche der Roch befanden sich wahrscheinlich auf dem Boden des Grottendoms. Unerreichbar tief unter ihm.
    Die beiden Dschinne stießen ihn eine Rampe hinauf in eine lang gestreckte Kammer, beinahe ein Saal. Boden und Decke verrieten, dass Symmetrie das Letzte gewesen war, wonach den Roch der Sinn gestanden hatte. Die zähe, strähnige Struktur der Wände unterschied sich nicht vom Anblick der übrigen Hohlräume im Inneren des Nestes. Offene Feuer im vorderen Teil der Kammer warfen Lichtschein und Schatten auf die zerfurchten Oberflächen. Helligkeit und Dunkel wimmelten wie etwas Lebendiges umeinander.
    Am anderen Ende der Kammer war die Finsternis dichter, ein Vorhang aus wattigen Schatten. Bis dorthin reichte die Wärme der Feuer nicht, auf halbem Weg ließ Tarik sie hinter sich zurück. In den aufgeheizten Tunneln des Nests war es leicht gewesen zu vergessen, wie tief unter der Erde sie sich befanden. In dieser Kammer aber blieb die natürliche Kälte des Abgrunds bewahrt.
    Aus der Dunkelheit drang ein Rascheln, als erhöbe sich jemand von einem Lager. Als aber gleich darauf Schritte zu hören waren, klangen sie keineswegs müde oder geschwächt, nur ruhig und sehr beherrscht. Ein Umriss formte sich aus den Schatten, eine Gestalt trat auf Tarik und seine Bewacher zu. Der Griff der Krallenhände um seine Arme wurde fester, und er war nicht sicher, ob das aus Vorsicht geschah oder aus Unruhe.
    Die Schritte hätten ihn verraten – welcher andere Dschinn ging auf Beinen? –, wäre Tarik nicht längst überzeugt gewesen, ihn hier unten wiederzusehen.
    All die Jahre über hatte er in Samarkands Tavernen Hunderte Abende mit Überlebenden des Dschinnkrieges verbracht, hatte sie ausgefragt über vielen Bechern Wein, hatte sich ihre Geschichten erzählen lassen und dabei immer nach Hinweisen auf den Einen geforscht, jenes Wesen, das ihm Maryam genommen hatte. Einige hatten von Amaryllis gehört, ein angstvolles Flüstern der Veteranen.
    Amaryilis der Falschäugige. Der Genähte. Der Menschendschinn und Lichtträger. Der Narbennarr. Er hatte so viele Namen, die ihrerseits nur Gerüchte waren. Ein Dschinnfürst, der sich einen neuen Körper erschaffen hatte, um mehr zu sein als nur ein Dschinn.
    Eis in Tariks Eingeweiden. Gleichzeitig Hitzestöße, die durch seine Glieder rasten. Seine Beine waren noch immer geschwächt und bebten leicht. In seiner Kehle saß ein Knoten aus Hass.
    Der Narbennarr betrachtete ihn lange. Falls die Erkenntnis, wer ihm da gegenüberstand, erst allmählich einsetzte, verriet er es durch nichts. Stattdessen war es fast, als hätte er Tarik erwartet.
    »Du also«, sagte er. »Natürlich du.«
    Das klare blaue Frauenauge hatte sich auf den Gefangenen geheftet wie auf ein faszinierendes Insekt. Etwas war mit seinem anderen Auge geschehen, dem männlichen, das damals braungelb und vertrocknet gewesen war. An seiner Stelle klaffte ein Loch in Amaryllis’ zusammengestückeltem Gesicht. Es erinnerte Tarik an die Sandhöhle einer Wüstenspinne; jeden Moment mochten sich dürre Beine von innen über die Ränder krallen.
    Der Dschinnfürst trug eine schmucklose dunkle Robe. Zweifellos verbarg sie weitere Narben, wo Arme, Beine und formlose Stücke zu einem neuen, menschenähnlichen Leib verwachsen waren.
    Tarik sagte nichts, brachte kein Wort heraus. Seine Hände ballten sich ganz von selbst zu Fäusten.
    »Wir haben uns beide verändert«, stellte Amaryllis fest. Die Bestandteile seines Flickengesichts konnten sich auf keine gemeinsame Mimik einigen, und so verfiel das Stückwerk aus den Zügen toter Menschen in ein zuckendes Chaos aus Regungen, die einander allesamt zu widersprechen schienen. Die Augenbraue über der leeren Höhle hob

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